Poesie | Homer neu erzählen und sich selbst verteidigen: Die schönsten Lyrik-Bücher des Herbstes

Nicht selten geht der Wunsch, Verdecktes, Verdrängtes und Verstecktes ans Licht zu bringen, dem poetischen Sprechen voraus. So könnte man Paul Celans Vers, „die wildernde Überzeugung, / daß dies anders zu sagen sei als / so“ aus dem Gedicht UND KRAFT UND SCHMERZ interpretieren, das 1970 in dem Band Schneepart erschien, ehe der Dichter freiwillig aus dem Leben schied.

Eine der aufregendsten Entdeckungen dieses Herbstes, dem die Überzeugung, es anders zu sagen als so zugrunde liegt, ist ein poetisches Buch, das hier genannt werden muss, wenngleich es nicht konventionellen Erwartungen an Lyrik entspricht: Z Ypsilon X von Peter Waterhouse ist ein dreiteiliges Werk, das auf Gattungsbezeichnungen verzichtet.

Ein Erzähler fragt darin, warum sein Großvater, der Dichter werden wollte, sein Schreiben in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie stellte. Er wurde Hauptschriftleiter in Wien. Um der Frage „Wie konnte es dazu kommen?“ nachzugehen, versetzt sich der Erzähler über die hinterlassenen Bücher des Großvaters in ihn hinein, der, im Ersten Weltkrieg verwundet, im Zweiten Weltkrieg fiel. Anstreichungen, Widmungen, Gebrauchsspuren gehen in die Recherchen ein, als Zeichen, die etwas außersprachlich bezeichnen. Was der Großvater einsehen muss, ist, dass mit der Verwundung im Krieg auch seine Sprache derart verwundet wurde, dass er sie nicht durchlässig und offen halten, sie nicht mehr „wehrlos“ werden kann, wie es poetisches Sprechen erforderte.

Es sind Lektüren von Karl Kraus, der Gedichte von Friedrich Hölderlin und Georg Trakl, die ihn zu dieser Einsicht führen, dass seine Sprache zu versehrt ist, um sie unideologisch zu gebrauchen: „Da war die Wehrlosigkeit nahe der Wahrheit. Da war das Wehren unwahr. Da wurde er Mitglied der Deutschen Wehrmacht.“

Wie Klaus Theweleit in den Männerphantasien beim soldatischen Typus Mann eine Form von Körperpanzer ausmachte, der dazu dient, alles Weiche abzuwehren, macht Waterhouse etwas aus, was man als Sprachpanzer bezeichnen könnte. Seine geduldige steht gegen eine ideologietaugliche Sprache. Sie zeigt, welche Wege der Einlassung und Reflexion lesend möglich sind, deckt auf, was nicht vergeht, indem sie die Stille umkreist, ersehnt, in der Geschichte als wirkmächtig erkennbar wird: „In der Stille blieb etwas. Stille bedeutete: bleibend und bewegungslos.

Etwas war immer noch. Still bedeutete: immer noch. Und es bedeutete: leise. Was leise war, war ein Immer-Noch. Wo es leise war, war das Bleibende, das Gebliebene, das Nichtvergangene, die Anwesenheit der Vergangenheit. Die Vergangenheit verging nicht in der Stille.“

Anecken und etwas Aufdecken will auch penelopes sch()iff. Der am Metrum des Hexameters angelehnte Text, der sich selbst die Gattungsbezeichnung Postepos gibt, ist das neueste Buch von Ulrike Draesner, Garantin für anregende literarische Experimente. Sie hat darin keinen geringeren Text als Homers Odyssee neu erzählt, aus der Sicht von Odysseus’ Gattin Penelope. Die sitzt im homerischen Epos bekanntlich auf Ithaka, wartet auf den reisenden Ehemann und webt jede Nacht an einem Stoff, den sie dann wieder auftrennt – Inbild eines Alltags, in dem bis heute noch immer gern Frauen die Care-Arbeit überlassen wird.

Dabei ist Penelope, wie Draesner im Vorwort feststellt, eine mächtige Frau. Laertes, Odysseus’ Vater, hat ihr während der Abwesenheit des Gatten die Herrschaft überlassen. Draesners Relektüre zeigt uns Penelope als eine Frau, die nicht passiv wartet, bis ihr Ehemann von seinen Abenteuern zurückkommt. Sie hat eine Menge Lust, auch in seiner Abwesenheit, und lebt sie aus. Sie ermuntert die Frauen der Insel: „fädelt ein / meine lieben / süßlieben sagt penelope / frühlingsfarben wie ein wiesel / wendig mit den blaugrünen / augen der seemännin-schon / (ohne irrsinn / wagemut vision geht hier / nichts).“ Und Odysseus? Er ist bei seiner Rückkehr nicht der Gatte, der einst in See gestochen war. Draesner erkennt in der homerischen Schilderung den „ewigen Soldaten“, der mit nach Hause bringt, was wohl alle Krieger mit sich führen: eine posttraumatische Belastungsstörung: „abends wird oytis / eingecremt. der körper / zerkratzt zerbrochen / das gesicht (helfen die / götter oder reicht mein blick).“ Penelope fasst den Plan, gemeinsam mit anderen Frauen Ithaka zu verlassen.

Sie stechen in See, bestehen selbst Abenteuer, sind findig im Umgang mit den Herausforderungen, haben auf ihrer wilden Seefahrt Verluste zu beklagen, landen aber schließlich in einer Lagune und siedeln neu: Venedig wird gegründet! Mit ihrem „Postepos“ stellt sich Draesner in eine Tradition der Neuerzählung antiker Mythen durch Autorinnen wie Margaret Atwood, Anne Carson oder Alice Oswald. Dem Schwung und Rhythmus dieser Verse überlässt man sich gerne, die Infragestellung Homers gerät heiter und verspielt, ohne das Geschliffene zu verlieren.

Auch Fran Locks Was ich meine, wenn ich „Poesie“ sage, (ist nicht, was sie meinen, wenn sie „Poesie“ sagen). Manifest für eine Arbeiter:innenklassenpoetik ist ein Band, der etwas Verdecktes in den Vordergrund schiebt. Matthias Kniep, Programmleiter im Haus für Poesie in Berlin, hat ein Manifest und elf Gedichte der 1982 geborenen britischen Autorin ausgewählt und gemeinsam mit Léonce W. Lupette übersetzt; „das gedicht und ich machen keine pläne“ heißt es in dem Manifest und weist eine bestimmte Form des lyrischen Sprechens als eines aus, in dem die prekäre Situation derer, die von ihrer Arbeit nicht oder kaum leben können, seinen Ort finden kann: „poesie, zumindest die arten von poesie, die mich interessieren, könnten die vorstellung davon, wer oder was ,zählt‘, was gesagt werden darf oder nicht, etwas weniger fest umgrenzen. falls poesie überhaupt für etwas ist, dann vielleicht für die zunichtemachung von sprache mittels sprache“.

Fran Locks Gedichte, die verwandt sind mit dem Furor derer von Kae Tempest, wenden sich gegen jegliche Form der Konvention, mit der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse reproduziert und konsolidiert werden können, gegen den Verschleiß von und den Abschied von Körpern und Körperlichkeit, bei dem die Indviduen zusammenschnurren, sich auflösen in dem, was als „menschlicher anzug“ in mehreren der Gedichte Niederschlag findet: „der menschliche anzug geht spazieren, damit meine ich dieses sentiments-/gerätchen. software. effizientes loch. dies indisponierte sakko.“ Fran Lock übt sich einer Sprache der ungeschönten Wut.

Ihr Ziel ist es, „etwas über verwundung als tatsächliche praxis zu schreiben“, wie es in Wunden: nenne sieben heißt. Sie möchte eine „grammatik irrationaler möglichkeit“ vorführen und hält utopisch zu auf ein Ziel, das es zu erreichen und zu verteidigen gäbe.

Eine andere Form der Verteidigung, eine Verteidigung als Selbstverteidigung, übt die 1995 geborene Sirka Elspaß in ihrem zweiten Gedichtband hungern beten heulen schwimmen. Das Motto des Bandes „Perhaps an angel looks like everything“, das dem Langgedicht Self portrait in a convex mirror (1974) von John Ashbery entnommen ist, und selbst wieder eines der berühmtesten Bilder der abendländischen Kunstgeschichte zitiert, nämlich Parmigianinos Selbstporträt im Konvexspiegel aus dem Jahr 1523 oder 1524.

Das deutet schon an, dass es in diesem Band auch darum geht, Verzerrungen der Wahrnehmung zu entlarven. In der Nennung des Engels verweist das Motto zugleich auf die Sehnsucht, dem Unbedingten nach-, in der schnöden Materie das Transzendente aufzuspüren. Elspaß, deren Lyrik gelingt, was nicht selbstverständlich ist, nämlich eine jüngere Leserschaft anzusprechen.

Sie dekliniert die fragilen Zustände eines sprechenden Ichs, das hinter einer Überfülle von Angeboten und Eindrücken die drückende Leere erkennt: „ist die leere ein baustein / den ich ausbauen kann / und was bleibt dann anderes / als wieder leere“ heißt es in dem Gedicht meinst du mich wenn du sprichst. Die emphatische Vorstellung, als Individuum gemeint zu sein, wird hier von einem Ich verteidigt, das im Eingeständnis der eigenen Brüchigkeit und Verwundbarkeit zu einer zarten Stärke findet. Ein bewegender Band, dessen Ton im Ohr bleibt: „ich höre die nachbarn waschen / wäsche ich höre die schmutzwäsche wirbeln / die große enttäuschung schickt mich / mein kopf die trommel hinab das bin ich / schon ein wenig angefasst vom leben ich habe / bei augenaufschlag nichts unterschrieben geworfen / gehofft vielleicht lassen Sie mich durch ich bin / lassen Sie mich durch die schmutzwäsche / die schmutzwäsche ich höre die nachbarn / diskutieren / du weißt was / weißt du schon / du weißt / was weißt du schon.“

Z Ypsilon X Peter Waterhouse Matthes & Seitz 2025, 1.600 S., 148 €

penelopes sch()iff. Postepos Ulrike Draesner Penguin 2025, 304 S., 35 €

Fran Lock. Was ich meine, wenn ich „Poesie“ sage, (ist nicht, was sie meinen, wenn sie „Poesie“ sagen). Manifest für eine Arbeiter:innenklassenpoetik. Matthias Kniep (Hrsg.) Matthias Kniep und Léonce W. Lupette (Übers.), Urs Engeler 2025, 92 S., 14 €

hungern beten heulen schwimmen Sirka Elspaß Suhrkamp 2025, 80 S., 20 €

Beate Tröger arbeitet als Literaturkritikerin, Moderatorin und Jurorin. Am allerliebsten schreibt, spricht und streitet sie über Lyrik. In diesem Jahr erhielt Beate Tröger den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2025. Die Jury hob ihr Engagement als Fürsprecherin zeitgenössischer Lyrik hervor.