„Plötzlich flogen uns die Fetzen um die Ohren!“ – Gestrandet im berüchtigten Mahlsand

Im Dezember 1961 begannen an der Nordseeküste schwere Unwetter zu wüten, bis in den Februar 1962 gab es Verwüstungen mit hunderten Todesopfern. Vor Cuxhaven wurde eine tückische Sandbank gleich zwei Frachtern zum Verhängnis.

Ein Unglück kommt selten allein, und manchmal trifft diese Redensart im wörtlichen Sinne zu. Etwa im Winter 1961/62, als schwere Stürme an der deutschen Nordseeküste tobten. Im Zeitraum von zwei Monaten kam es dabei zu Verwüstungen, die hunderte Menschen das Leben kosten sollten.

Zu Beginn des Winterdramas berichtete WELT am 7. Dezember 1961, einem Donnerstag: „Schwere Unglücksfälle und unübersehbaren Sachschaden hat der Sturm auf See und in Norddeutschland in der Nacht zum Mittwoch angerichtet. Er erreichte in Böen Orkanstärke. Bei Helgoland wurden vier Meter hohe Wellen gemessen. Die Halligen und die Vorländer an der Küste und längs der Elbe waren überflutet. Der Schiffsverkehr war fast völlig zum Erliegen gekommen. Nur große Schiffe konnten die Reise fortsetzen.“

Doch nicht alle großen Schiffe erreichten in jener Sturmnacht ihr Ziel. Dem Liverpooler Frachter „Ondo“ wurde eine tückische Sandbank vor Cuxhaven zum Verhängnis: der Große Vogelsand. Bis heute geht von dieser Untiefe in der Elbmündung eine große Gefahr für den Schiffsverkehr aus, weil sie aus besonders feinem „Mahlsand“ besteht, aus dem aufgelaufene Schiffe kaum freikommen. Eine gleichzeitig fortschreitende Unterspülung der Schiffsenden trägt dabei zu deren Durchbrechen bei. Hunderte Schiffe ereilte im Laufe der Zeit dieses Schicksal.

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Nur etwa zehn Kilometer (fünfeinhalb Seemeilen) entfernt liegt die Station der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) in Cuxhaven. Die Seenotretter – die ihre Arbeit seit gut anderthalb Jahrhunderten nur mit Spenden finanzieren und auf eine staatliche Förderung verzichten – sind schon oft zu der Mahlsandbank ausgerückt, auch der aufgelaufenen „Ondo“ kamen sie zu Hilfe.

Der Frachter mit einer Ladung von 5000 Tonnen Kakaobohnen an Bord war 800 Meter von der Schifffahrtsstraße abgetrieben worden und in der Nähe eines der schwimmenden Leuchtfeuer gestrandet, welche die Untiefe damals markierten. Bei dem Versuch, bei Windstärke zwölf längsseits der „Ondo“ zu gehen, war zuvor ein Lotsenversetzboot des Lotsendampfers „Kapitän Hilgendorf“ in der aufgewühlten See gekentert. Es sollte vorschriftsmäßig einen revierkundigen Hamburger Lotsen zur „Ondo“ bringen.

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Eine sofort eingeleitete Suchaktion blieb erfolglos, der Lotse sowie zwei Cuxhavener Matrosen konnten nicht gerettet werden. Das DGzRS-Motorrettungsboot „Rickmer Bock“ aus Friedrichskoog entdeckte nachmittags das Lotsenversetzboot. Es war unbemannt und voll Wasser geschlagen. Im Laufe des Tages wurde die Lage für die „Ondo“ immer bedrohlicher. Bergungsfachleute befürchteten bereits zu diesem Zeitpunkt, dass man den Frachter kaum noch aus seiner Mahlsandfalle werde befreien können.

Die Cuxhavener Wetterwarte meldete abends für die Unfallstelle immer noch Windstärke sechs und Wellenhöhen von drei Metern. Die Bergungsschiffe „Danzig“, „Fairplay I“, „Bugsier 17“ und der DGzRS-Seenotrettungskreuzer „Ruhr-Stahl“ blieben in der Nähe der mit 50 Mann besetzten „Ondo“, um die Besatzung im Notfall zu übernehmen; am Abend gelang es aber nicht mehr, zum Havaristen zu gelangen.

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Auch auf dem Land verursachte der Sturm viele Unfälle. Allein die Hamburger Feuerwehr wurde in 24 Stunden mehr als 60-mal alarmiert. Am Dienstagabend wurde bei der Feuerwehr sogar der Ausnahmezustand ausgerufen. Fast alle ihre Fahrzeuge waren unterwegs und wurden über Funk von Einsatz zu Einsatz geleitet. Zahlreiche Keller wurden überflutet, Dächer losgerissen und Bäume entwurzelt. In allen Teilen Norddeutschlands gab es Überschwemmungen, stellenweise standen Fahrbahnen 40 Zentimeter unter Wasser.

Besonders hart getroffen wurde die Insel Sylt. Die Dünen entlang der Westküste brachen an einigen Stellen bis zu sechs Meter zur See hin ab. In Westerland wurde 1,75 Meter über Normalwasserstand gemessen. Die Wellen schlugen Holz, Seetang und schwere Steine auf die Kurpromenade. Scheiben der Brunnenhalle und mehrere Ausstellungsfenster wurden dadurch zertrümmert. Dem Sturm, der am Tag noch fast frühlingshafte Temperaturen gebracht hatte, folgte jetzt Frostwetter mit Schnee- und Graupelschauern.

All das war nur der Auftakt, am nächsten Morgen ging das Drama weiter, das wochenlang andauern sollte. Noch gab es „letzte Chancen für den im Mahlsand gestrandeten Frachter“, noch war die „Ondo“ nicht verloren, wie WELT hoffnungsvoll berichtete. Das Schiff steckte nun bereits fünf Meter tief im Sand, von Stunde zu Stunde sackte es tiefer ein. Ein neuer Bergungsversuch schlug jedoch fehl, woraufhin 1000 Tonnen der Kakao-Ladung ins Meer gekippt wurden. Aber die „Ondo“ rührte sich kaum. Ein Hubschrauber der Bundeswehr barg zeitgleich den vermissten Hamburger Lotsen tot aus dem Meer.

Über den Wettlauf der Bergungskräfte mit der Zeit am Folgetag berichtete WELT am 9. Dezember 1961 schon mit deutlich gedämpftem Optimismus. In dem Artikel mit der Überschrift „Harter Kampf um den Frachter ‚Ondo‘ – Mit jeder Stunde sinkt die Hoffnung“ wurde der Vertreter einer Cuxhavener Bergungsfirma mit der düsteren Einschätzung zitiert, dass die Chancen auf Rettung „nur noch eins zu neun“ stünden. Das Zerstörungswerk des Mahlsands inmitten schlechten Wetters mit Regen- und Schneeböen war unübersehbar. Die „Ruhr-Stahl“ funkte, der Wellentunnel der „Ondo“ sei schon geschlossen und stünde unter Wasser.

„Die Ondo ist verloren“

Beim Mittagshochwasser gelang es den Schleppern lediglich, den Frachter ein wenig in Schlepprichtung zu drehen. Der staubfeine Mahlsand bewegte sich mit der Strömung wie eine Wanderdüne im Wind, machte es damit auch unmöglich, etwa einen Kanal zu dem aufgelaufenen Schiff zu graben und es auf diesem Weg herauszuziehen. Die einzig optimistischen Stimmen hörte man jetzt nur noch von Kapitän und Besatzung der „Ondo“ selbst. Sie wollen auf ihrem Schiff ausharren, „solange noch ein Fünkchen Hoffnung ist“, wollten nicht glauben, dass der Frachter nur noch eine geringe Chance hatte. „Die Engländer kennen die Tücken des Mahlsandes an dieser Stelle nicht“, meinte dazu ein deutscher Bergungsfachmann.

Er sollte recht behalten – zwei Tage später meldete WELT unter der Überschrift „Die Ondo ist verloren“, dass alle weiteren Versuche erfolglos geblieben waren. Am Nachmittag des 9. Dezember hatten die Seenotretter der „Ruhr-Stahl“ zwei Dutzend Mann der Besatzung nach Cuxhaven gebracht, am Abend übernahmen sie weitere 18 Mann. An Bord blieb der Kapitän mit wenigen Besatzungsmitgliedern, um beim Löschen der restlichen Kakaoladung zu helfen. Denn inzwischen konnten sich kleinere Schiffe, darunter Krabbenkutter, der „Ondo“ nähern und Kakaosäcke direkt übernehmen, um wenigstens einen Teil der wertvollen Ladung zu retten. Am 11. Dezember verschlechterte sich die Wetterlage dann wieder derart, dass die „Ruhr-Stahl“ die verbliebenen Seemänner und ihren Kapitän, der als letzter das Boot verließ, in Sicherheit brachte.

Raue See prägte auch in den folgenden Wochen wiederholt die Region, und nur eineinhalb Monate später strandete am 20. Januar 1962 knapp 300 Meter von dem „Ondo“-Wrack entfernt ein weiterer Frachter am „Schiffsfriedhof“ des Großen Vogelsands: die aus Italien stammende „Fides“ mit 32 Mann und einer Ladung von knapp 10.000 Tonnen Aluminiumerz an Bord. Das Schiff geriet an jenem Samstag um kurz nach sieben Uhr früh bei Südwestwind in Stärke sechs bis sieben in den Mahlsand, und um 16.30 Uhr brach es mit ohrenbetäubendem Krachen auseinander.

Das Achterschiff sackte in die von der Schraube aufgewühlte Mulde, das Vorderschiff lag im Sand. Beide Teile hingen nur noch am Schiffsboden zusammen. Die Besatzung einschließlich eines zuvor an Bord beorderten deutschen Lotsen wurde von der „Ruhr-Stahl“ übernommen, die auch bei diesem Unglück im Einsatz war, und deren Kapitän Rolf Hoffmann über die entscheidenden Sekunden sagte: „Plötzlich flogen uns die Fetzen um die Ohren!“

Die ganz große Katastrophe des stürmischen Winters an der Nordseeküste stand jedoch noch aus; sie ereignete sich einige Wochen später, vom 16. auf den 17. Februar 1962. In jener Freitagnacht ließ ein Orkan mehrere Deiche brechen und Wasserstände vielerorts auf Rekordhöhen steigen. Hunderte kamen in der Sturmflut ums Leben, die meisten davon in Hamburg, wo die Lage besonders dramatisch war. Etliche Helfer, darunter Feuerwehr, Polizei und Bundeswehr, waren im Großeinsatz.

Das Wrack der „Ondo“ bekam in diesem Orkan starke Schlagseite. In den Wochen zuvor waren Bergungsmaßnahmen auf dem havarierten Frachter wieder aufgenommen worden, um wertvolles Material wie Navigationsgeräte zu sichern. Fünf Mitarbeiter der Reederei waren jetzt an Bord und sendeten Notsignale. Einmal mehr kam die „Ruhr-Stahl“ zu Hilfe, in der aufgewühlten See kämpfte sie sich in die Nähe des Wracks.

Erst nach mehreren halsbrecherischen Manövern, bei dem das Tochterboot „Tünnes“ schwer beschädigt wurde, konnte Kapitän Hoffmann die „Ruhr-Stahl“ fünfmal nacheinander mit dem Bug dicht genug an die „Ondo“ heranbringen, sodass die fünf Mann an Bord des Wracks nacheinander auf das Vorschiff des Seenotrettungskreuzers springen konnten. Eine spektakuläre, lebensgefährliche Rettungsaktion.

Als Kapitän der „Ruhr-Stahl“ und weiteren DGzRS-Schiffen rettete Rolf Hoffmann mit seinen Crews noch vielen weiteren Seeleuten das Leben. 1981 ging er in den Ruhestand und wurde von Bundespräsident Karl Carstens mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt. Wrackteile der „Ondo“ und „Fides“ waren noch jahrzehntelang am Großen Vogelsand sichtbar – bis die Untiefe sie endgültig verschlang.

Zu den Themenschwerpunkten von Martin Klemrath bei WELTGeschichte zählen Technikgeschichte, Zeitgeschichte, Kulturgeschichte und die Geschichte der USA.

Source: welt.de