Philadelphia | Die Kämpfe extrinsisch des Rings: John Verchers Krimi „Umnachtet“

John Verchers Roman „Umnachtet“ erzählt von Rassismus, Demenz, Kampfsport und verschobenen Wetten. Er spielt in Philadelphia und im Mixed-Martial-Arts-Sport-Milieu


Das tut weh

Foto: Jeff Hutchens/Getty Images


Als Xavier den Kofferraum seines Autos öffnet, steigt ihm unerträglicher Gestank in die Nase. Erst weiß er gar nicht, was das sein kann. Dann wird ihm klar, das sind die Einkäufe, unter anderem Hühnerfleisch, die er vergessen und für einige Tage in der Sommerhitze im Auto hat liegen lassen. Denn der Mixed-Martial-Arts-Kämpfer leidet an dem, was umgangssprachlich als Boxerdemenz bekannt ist und im Fachjargon traumatische Enzephalopathie heißt. John Verchers in Philadelphia angesiedelter Roman Umnachtet bietet einen Blick hinter die Kulissen dieses in den USA populären Kampfsports und den dazugehörigen Wetten, die vom organisierten Verbrechen verschoben werden.

Neben seiner immer stärker werdenden Vergesslichkeit plagen den Enddreißiger Xavier außerdem chronische Kopfschmerzen und Tinnitus. Schafft er es nach einer einjährigen Sperre wegen Dopings überhaupt zurück in den Käfig, wie im Mixed-Martial-Arts-Sport der Ring heißt? Denn Shot, sein Cousin, Trainer und Manager, hat für ihn einen Kampf organisiert, den er aber in der dritten Runde verlieren muss. Dann haben er und Shot zumindest finanziell ausgesorgt. Aber kriegt Xavier das hin? Wenn nicht, könnte das die beiden ihr Leben kosten. Denn die Wetten für den Kampf werden von knallharten Leuten manipuliert.

Zwischen Kampftraining und Pflegeheim

Philadelphia bot schon für die Rocky-Filme den sozialrealistischen Hintergrund einer Boxer-Story, erfreut sich aber darüber hinaus auch im Serienbereich gerade großer Beliebtheit als Schauplatz für starbesetzte Krimis, die vom sozial abgehängten urbanen Amerika erzählen; zuletzt kämpften FBI-Agenten in Task (HBO) gegen Raubüberfälle.

Vercher, der selbst in Philadelphia wohnt und als Jugendlicher auch Mixed Martial Arts praktizierte, erzählt weniger von kriminellen Tätern, sondern mehr vom prekären Leben eines Kampfsportlers, der seinen Sport aus gesundheitlichen Gründen eigentlich gar nicht mehr ausüben dürfte. Aber er hat gar keine andere Chance, als dem Druck nachzugeben und seine Rolle zu spielen. Neben dem Training muss sich Xavier um seinen dementen Vater kümmern, der im Pflegeheim lebt und dort regelmäßig das nichtweiße Personal rassistisch beschimpft.

Xavier selbst ist ebenso wie seine Mutter schwarz, der Vater weiß. Kann es wirklich sein, dass sein Vater, bei dem Xavier aufwuchs, als die Mutter die Familie verließ, knallharter Rassist ist und sich das aber erst im Zustand der Demenz bemerkbar macht, weil er es vorher verstecken konnte? Dabei kämpft Xavier selbst mit seinem eingeschränkten Erinnerungsvermögen, das es ihm fast unmöglich macht, im Alltag zurechtzukommen. Zwischen dem Kampftraining und Besuchen im Pflegeheim, wo er immer öfter zwischen den Mitarbeitern und seinem streitsüchtigen Vater vermitteln soll, wird Xavier langsam aufgerieben.

John Vercher schreibt sozialkritische Kriminalliteratur

Verchers Roman geht über eine gängige Crime-Story weit hinaus und passt damit aber sehr gut ins Programm des in Stuttgart ansässigen Polar-Verlags, der sich auf sozialkritische Kriminalliteratur aus den USA spezialisiert hat und auch schon Verchers Debütroman Wintersturm herausgebracht hat, den der Guardian in der Kategorie „Best Crime and Thrillers 2020“ lobte. Umnachtet erzählt vom Vater-Sohn-Konflikt und einer brandgefährlichen Situation, als Xavier von zwei Polizeibeamten in der Auffahrt seines Hauses kontrolliert wird und einer bereits die Hand an der Schusswaffe hat. Philadelphia ist eben auch berüchtigt für rassistisch motivierte Polizeigewalt.

Vercher bleibt immer ganz nah an seiner Hauptfigur dran und lässt in einer aufwühlenden und mitunter auch sehr dialogreichen Prosa den Leser die Verlorenheit und die körperlichen Schmerzen und Entsagungen fast miterleben. Etwa als Xavier vor dem alles entscheidenden Kampf unbedingt Gewicht verlieren muss und bis zur Erschöpfung trainiert, ohne etwas zu trinken.

Aber auch die immer zahlreicher werdenden kognitiven Aussetzer Xaviers prägen den dramaturgischen Fortlauf der Geschichte. Im finalen Kampf geht es dann um alles und natürlich klappt das in dieser Geschichte, die ein Scheitern Xaviers nach dem anderen in Szene setzt, nicht so wie erwartet. Auch wenn Umnachtet keine empowernde Geschichte erzählt und ein überaus tragisches und geradezu verstörendes Ende hat, fiebert man bei der Lektüre mit der Figur regelrecht mit – selbst wenn man mit dem Boxsport oder Martial Arts so gar nichts am Hut hat.

Umnachtet John Vercher Harriet Fricke (Übers.), Polar-Verlag, 300 S., 26 €