Pawel Durow: Plötzlich ist Putin zum Besten von die Meinungsfreiheit

Eigentlich hätte er es besser wissen müssen. Er vermied seit Jahren Reisen nach Europa, wo Telegram von den Strafverfolgungsbehörden überwacht wird. Er wusste, dass er in Frankreich, dessen Staatsbürgerschaft er seit 2021 besitzt, eine Persona non grata ist. Trotzdem landete Pawel Durow, Gründer einer der populärsten Messengerdiensten weltweit, am Samstagabend in Paris – und wurde noch am Flughafen von der Polizei verhaftet. Wie die New York Times berichtet, steht die Verhaftung in Zusammenhang mit einer größeren Untersuchung der Behörden zu kriminellen Aktivitäten auf der Plattform.

Sein Name stand auf einer Fahndungsliste. Durow wird vorgeworfen, seine App nicht ausreichend moderiert und jegliche Zusammenarbeit mit Geheimdiensten verweigert zu haben. Telegram ermögliche somit die uneingeschränkte Kommunikation von Kriminellen und die Verbreitung von Desinformation. Sollte ein Gericht Durow schuldig sprechen, drohen ihm bis zu 20 Jahre Haft.

Der erste Aufschrei über Durows Verhaftung erfolgte aus der Techbubble: Edward Snowden sprach von einer Demütigung nicht nur für das Land, „sondern für die ganze Welt“. Und der Oberbverteidiger radikaler Meinungsfreiheit, Elon Musk, schrieb auf X: „Liberté. Liberté! Liberté?“

Telegram wird aufgrund der verschlüsselten Kommunikation schließlich nicht nur von Terroristen und Querdenkern genutzt, sondern auch von Freiheitskämpfern in Ländern wie Belarus und dem Iran. In Durows Heimatland ist Telegram die letzte große wirklich freie Plattform. Die Verhaftung sendet ambivalente Signale und wirft ein zweifelhaftes Licht auf den Westen.
Das hat auch der Kreml erkannt.

Empörung in Russland

Selten kann man wie jetzt beobachten, dass sich der russische Staat derart für die Wahrung der Meinungsfreiheit einsetzt. Tatjana Moskalkowa, Russlands – Achtung – Menschenrechtsbeauftragte, empörte sich darüber, dass Frankreich insgeheim Telegram sperren wolle, „weil man dort die Wahrheit über die Welt herausfinden“ könne. Der stellvertretende Vorsitzende der Staatsduma, Wladislaw Dawankow, wählte ebenso drastische Worte: „Wir müssen ihn da jetzt rausholen!“ Sollten sich die französischen Behörden weigern, Durow aus der Haft zu entlassen, werde man versuchen, ihn auf russisches Territorium zu bringen – „natürlich nur mit seiner Zustimmung“. Und der in Russland populäre prorussische Sänger Shaman richtete sich in einer Videobotschaft direkt an den gefangenen Landsmann: „Pascha, mein Freund! Frei und unbeschwert atmen kann man nur …“, hier schließt er die Augen und atmet theatralisch tief ein und wieder aus, „… in Russland. Komm nach Hause. Hier wird man sich immer an dich erinnern, dich willkommen heißen und dich lieben.“ Selbst in den Fernsehnachrichten verteidigte man Durow: „Europa hat den Anschluss an technologische Innovationen verpasst und macht nun Jagd auf diejenigen, die an der Spitze des Fortschritts stehen.“

Komisch, noch vor wenigen Jahren klang das alles ganz anders. 2018 berichtete dieselbe Sendung verständnisvoll über die staatlichen Versuche, Telegram zu sperren. Durow weigerte sich damals, mit dem FSB zu kooperieren. Wie über ein ungehorsames Kind schimpften die Berichterstatter: „Während Facebook-Gründer Mark Zuckerberg demütig vor dem US-Kongress auftrat, um den Gesetzgebern seine volle Loyalität zu versichern, nahm Pawel Durow eine demonstrativ trotzige Haltung ein.“

Den Telegram-Gründer, der jetzt so leidenschaftlich beschützt wird, sieht der Kreml in Wahrheit seit Jahren kritisch. Durows erste App war VKontakte, eine Art russisches Facebook. Während des Euromaidan 2013/2014 verlangten die Behörden von ihm, persönliche Daten ukrainischer Demonstranten und Oppositionellen herauszugeben. Durow weigerte sich mit der Begründung, die Privatsphäre der ukrainischen Nutzer schützen zu müssen. Er erhielt daraufhin das freundliche Angebot, sein Unternehmen und das Land zu verlassen. VKontakte übernahmen Putins Verbündete, die Plattform wird seitdem stark zensiert.

In der neuen Heimat Dubai gründete Durow seine zweite App, Telegram. Durch das Verschlüsselungsprinzip ist eine Überwachung der Chats und Gruppen schwierig. Seit Jahren versucht Russland daher, Telegram zu sperren. 2017 verlangte der FSB von Durow, notwendige Verschlüsselungscodes herauszugeben, was dieser verweigerte. Ein Jahr später versuchte dann Roskomnadsor, eine Behörde, die Medien kontrolliert, die App zu sperren. Allerdings funktionierte Telegram für die meisten Nutzer weiterhin problemlos, der Datenverkehr des Messengers nahm sogar zu. 2020 wurde der Versuch abgebrochen mit der Begründung, eine richtige Sperrung sei „technisch unmöglich“. 

Aufgegeben hat der Kreml aber noch nicht. Nur wenige Tage vor Durows Verhaftung kam es bei Telegram und anderen Social-Media-Plattformen zu massiven Störungen. Roskomnadsor erklärte, man habe mit großflächigen kriminellen Angriffen zu tun. Experten glauben jedoch, dass ein erneuter Versuch unternommen wurde, Telegram zu blockieren.

Durow scheint dem russischen Gefängnis entkommen zu sein, um im
französischen zu landen. Für Putin und seine Propagandisten ist das ein
Geschenk. Nun kann man über die Scheinheiligkeit des Westens und über
dessen Doppelmoral spotten. Ganz nach dem Motto: Seht an, wie es um die
ach so tolle westliche Meinungsfreiheit steht!

Zu viel Solidarität

Dass der Kreml selbst alles Mögliche tut, um Telegram und dessen Gründer einzuschränken, tut da nichts zur Sache. Dmitri Medwedew, stellvertretender Leiter des Sicherheitsrates und Chef-Verschwörungstheoretiker, sagte nach Durows Verhaftung: „Er wollte ein Mann von Welt sein, der ohne seine Heimat auskommt. Er hat sich verkalkuliert. Für alle unsere gemeinsamen Feinde ist er nun ein Russe – und damit unberechenbar und gefährlich. Von einem anderen Blut.“ Durow müsse nun doch endlich begreifen, „dass man sich das Vaterland nicht aussuchen kann“.

Das klingt nach toxischen Familienverhältnissen. Seine Verwandten kann man sich schließlich auch nicht aussuchen. Und tatsächlich verhält sich Russland gegenüber der ganzen Durow-Geschichte wie ein großer Bruder, der über den jüngeren sagt: „Ich darf ihn hauen – aber wehe, jemand anderes krümmt ihm nur ein Haar!“

Ausgerechnet auf VKontakte macht sich auch Schadenfreude breit. Unter Posts über Durows Verhaftung kommentierte ein Nutzer: „Das passiert mit denjenigen, die ihren russischen Pass abgeben und nach Europa fliehen, um Demokratie zu schnuppern. Hoffentlich ersticken sie jetzt nicht daran.“ Ein anderer schrieb: „Es heißt ja nicht umsonst: Wo du geboren bist, da bist du nützlich! In Russland landet man nicht einfach so im Gefängnis.“

Am Tag nach der Verhaftung hielt der Aktivist Wladislaw Mazur eine Mahnwache für Durow vor der französischen Botschaft in Moskau. Auf seinem Plakat stand: „Frankreich, tritt nicht in Putins Fußstapfen. Respektiert die Redefreiheit!“ Mazur wurde ziemlich schnell wegen Ungehorsam von der Polizei abgeführt, die Nacht verbrachte er in einer Gefängniszelle.
Das war dann wohl zu viel Solidarität.