Parlamentswahlen: Wenn die rechte Mitte kollabiert
Thomas Biebricher ist Heisenberg-Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Krise des gemäßigten Konservatismus in Deutschland und Europa. Zuletzt erschien sein Buch: „Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus“ (Suhrkamp, 2023).
Wenn am Donnerstag im Vereinigten Königreich nach der Unterhauswahl die Stimmen ausgezählt sind, werden Beobachterinnen und Beobachter von einer Zäsur sprechen, wenn nicht gar vom Ende einer Ära. Denn nachdem die Conservative Party seit 2010 in wechselnden Konstellationen insgesamt fünf Premierminister stellte und seit 2019 über die größte Mehrheit seit der Thatcher-Ära verfügte, wird sie diesmal definitiv verlieren. Mit einem Ergebnis, von dem man nur noch nicht weiß, ob es schlecht, katastrophal oder desaströs ausfällt.
An der Niederlage selbst zweifelt auch bei den Torys niemand mehr. Die Aussicht auf eine längere Zeit in der Opposition wird die Partei verändern. Ein Teil der Führungsriege hat bereits signalisiert, sich nach der Wahl aus der Politik zurückziehen zu wollen. Kurzzeitfinanzminister Kwasi Kwarteng gehört dazu, insgesamt treten 75 aktuelle Mandatsträger nicht mehr an. Und dass Rishi Sunak sich als Vorsitzender wird halten können, gilt als ausgeschlossen. Die Frage ist nur, ob der (erneute) Radikalisierungsschub durch eine veritable Wahlklatsche gar so stark ausfällt, dass er rechte Hardliner wie die ehemalige Innenministerin Suella Braverman tatsächlich an die Spitze der Torys befördert. Für eine Partei, die in ihren Positionierungen die rechte Mitte längst hinter sich gelassen hat, wäre das allerdings nur konsequent.
Nur drei Tage nach der britischen Entscheidung geht in Frankreich die vorzeitig von Präsident Emmanuel Macron anberaumte Parlamentswahl in die zweite Runde. Obwohl Prognosen aufgrund des zweistufigen Mehrheitswahlsystems nur bedingt aussagekräftig sind: Auch dort dürfte die rechte Mitte am Sonntagabend weitgehend verwaist sein. Und zwar nicht nur, weil das Macron-Lager, das ja in seinem politisch-ideologischen Schillern bisweilen auch die rechte Mitte abdeckt, einer schweren Niederlage entgegengeht. Sondern vor allem, weil die Partei, die über Dekaden die rechte Mitte in Frankreich besetzte und Präsidenten von de Gaulle über Pompidou und Chirac bis zu Sarkozy stellte, der politischen Bedeutungslosigkeit entgegentaumelt.
Degradiert zum Anhängsel des Rassemblement National
Les Républicains, wie sich die Konservativen seit 2015 nennen, steckten eigentlich schon seit 2017 in einer dramatischen Niedergangdynamik. Ihr Präsidentschaftskandidat François Fillon verpasste damals den Einzug in die Stichwahl, und die Partei musste bei der Parlamentswahl ein Minus von mehr als zehn Prozentpunkten verschmerzen. 2022 büßte man noch einmal fünf Prozentpunkte ein, und die Präsidentschaftskandidatin Valérie Pécresse scheiterte beschämenderweise selbst an der Fünf-Prozent-Hürde. In der ersten Runde kamen die Republikaner nicht einmal auf sieben Prozent (gut zehn, wenn man verbündete Rechte mitzählt), ein weiteres Minus, das sie auf eine parlamentarische Nischenexistenz reduzieren wird – die ehemals staatsprägende Partei der Gaullisten, degradiert zum Anhängsel des Rassemblement National (RN).
Das gilt unabhängig vom Wahlausgang ohnehin für den Teil der Republikaner, der dem (Noch-)Vorsitzenden Éric Ciotti die Treue hielt, als er dem RN eine Wahlallianz vorschlug, was ihn umgehend und zumindest vorübergehend sein Amt kostete (Demission und Parteiausschluss erwiesen sich als nicht rechtskräftig). Tatsächlich traten bei der Wahl nun in 62 Wahlkreisen Republikaner und RN gemeinsam als union de l’extreme droite an. Der cordon sanitaire gegenüber dem RN ist damit Geschichte. Das wiederum dürfte die Spaltung der Partei nach sich ziehen. Es ist der vorläufige Endpunkt eines beispiellosen Niedergangs.
Dieser spektakuläre Kollaps eines ehemals gemäßigten Konservatismus der rechten Mitte in zwei der wichtigsten liberalen Demokratien Europas ist an dieser Stelle kaum umfassend zu erklären. Aber entscheidende Wegmarken lassen sich durchaus identifizieren.
Für Frankreich lässt sich eine solche Wegmarke recht präzise bestimmen. Es ist Nicolas Sarkozys Wahlkampf im Jahr 2007, bei dem er mit dem Anspruch antrat, Wähler vom damaligen Front National (FN) zurückzugewinnen und offensiv für eine „Rechte ohne Komplexe‘“ warb. Dementsprechend bespielten die Konservativen das gesamte Themenspektrum des FN: von Recht und Ordnung und Migrationskritik über die Rolle des Islams in einer laizistischen Republik inklusive der unvermeidlichen Hijabdebatte bis zur Frage, was denn eigentlich die französische Identität ausmache und wer in diesem Sinne tatsächlich zu Frankreich gehöre. Und sie hatten Erfolg.
Thomas Biebricher ist Heisenberg-Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Krise des gemäßigten Konservatismus in Deutschland und Europa. Zuletzt erschien sein Buch: „Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus“ (Suhrkamp, 2023).
Wenn am Donnerstag im Vereinigten Königreich nach der Unterhauswahl die Stimmen ausgezählt sind, werden Beobachterinnen und Beobachter von einer Zäsur sprechen, wenn nicht gar vom Ende einer Ära. Denn nachdem die Conservative Party seit 2010 in wechselnden Konstellationen insgesamt fünf Premierminister stellte und seit 2019 über die größte Mehrheit seit der Thatcher-Ära verfügte, wird sie diesmal definitiv verlieren. Mit einem Ergebnis, von dem man nur noch nicht weiß, ob es schlecht, katastrophal oder desaströs ausfällt.