Pablo Picasso: Das Wunderkind ist aus der Zeit gefallen
Das Wunderkind ist aus der Zeit gefallen – Seite 1
Noch einmal also Wunderkind und Genie, noch einmal Pablo Picasso. Gleich 50 Ausstellungen gibt es zu sehen, von Málaga bis Münster, und alle feiern sie den vulkanischen Maler, erhitzt und drängend. Fast könnte man meinen, Picasso sei nicht vor einem halben Jahrhundert gestorben, sondern noch immer der Größte unter den Großen.
Doch der Eindruck täuscht. Picasso ist merklich aus der Zeit gefallen. Oder vorsichtiger: Sein Mythos schrumpft. Selbst das Musée national Picasso in Paris muss sich nun etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Die Kunst selbst ist nicht mehr besonders genug. Ein Modemacher soll es richten, der Brite Paul Smith, der die Bilder mal auf pinke, mal auf wild karierte Wände hängt, zwei Picasso-Ziegen auf ein wiesengrünes Podest stellt und auch sonst sehr bemüht ist, den alten Meister ein wenig jünger aussehen zu lassen. „Wir wollten Picasso relevant machen“, erklärt die Direktorin des Museums, Cécile Debray, im Guardian. Relevanz per Knalleffekt.
Mag sein, dass sich das Publikum so noch gewinnen lässt. Doch als Vor- und Leitbild, als Galionsfigur einer unerschrockenen Moderne hat Picasso unübersehbar ausgedient. Unter den Künstlerinnen und Künstlern der Gegenwart, vor allem unter den jüngeren, findet sich so gut wie niemand mehr, der sich für seine Chiffren- und Figurenwelt noch begeistern könnte. Picassos absoluter Freiheitsbegriff wird skeptisch beäugt. Seine Ichbezogenheit, sein nimmermüder Schaffensdrang werden bestenfalls milde belächelt.
Gern erzählte er von seiner Mutter, die ihm schon als Kind geweissagt habe: „Wenn du Soldat wirst, wirst du General werden. Wenn du Mönch wirst, wirst du schließlich Papst werden. Stattdessen habe ich es als Maler versucht und bin Picasso geworden.“ Picasso, der General und Papst unter den Künstlern, der die gesamte Welt für sich einnehmen wollte und zugleich davon überzeugt war, dass er die Welt längst besaß, dass sie in ihm war und er sie immer nur neu ans Licht holen musste mit seinen Gemälden, Zeichnungen, Grafiken, Keramiken, Collagen sonder Zahl. Die meisten seiner Werke hat er unbetitelt gelassen, sie tragen nur seine Signatur, denn mehr als das, Ausdruck seiner selbst, sollten sie nicht sein. „Ich male so, wie andere ihre Autobiografie schreiben“ – die Bilder als „Seiten meines Tagebuchs“, mit Datum versehen, manchmal auch mit der Uhrzeit.
Diesen Glauben daran, dass sein Leben ein Werk (das größte von allen) und sein Werk das Leben sei, mag man furchtbar übersteigert finden; doch zumindest erinnert es von fern an das, was auch heute viele Künstlerinnen und Künstler umtreibt, die ihre Identität ganz eng mit ihrer Kunst verweben. Sie soll das politische Wollen, das soziale Sein reflektieren. Und die Gesellschaft verändern. Genau wie Picasso, könnte man meinen.
„Malerei ist nicht dazu da, Wohnungen zu dekorieren“, befand er. „Sie ist eine Waffe zum Angriff und zur Verteidigung gegen den Feind.“ Für die Weltausstellung 1937 in Paris hatte er sein gigantisches Antikriegsbild Guernica gemalt. 1944 trat er in die Kommunistische Partei ein und galt spätestens seitdem vielen als politischer Kopf.
Keine Trennung zwischen Leben und Werk
Lange Zeit allerdings war er nie als solcher aufgefallen – obwohl er mit vielen Avantgardekünstlern befreundet war, die offen für eine andere Weltordnung stritten. Der Dichter Louis Aragon zum Beispiel, der Picasso wie Matisse dafür kritisierte, sie würden ja nur teure Werke für reiche Sammler produzieren. Wenig erstaunlich daher, dass Picassos politischer Kampfeswille nach dem Krieg nicht lange anhielt. Er zog sich in seine Ateliers zurück, raus aus der Welt, rein in einen farbenfrohen Privatismus.
Sein liebstes Sujet war und blieb das Frauenporträt, zunächst sitzend, in späteren Jahren meist liegend. Und oft waren es seine Geliebten, die er mit einer seltsamen Mischung aus Faszination und Abscheu ins Bild setzte. Häufig wurde beschrieben, wie er ihnen die Köpfe verdrehte, ihre Leiber zerhieb und neu montierte. Ein Vorgang der Deformation und Destruktion, der sich als eigener künstlerischer Ausdruck, vielleicht auch als Zeichen einer an sich selbst irre werdenden Moderne verstehen lässt. Allerdings, Picasso entmenschlichte die Frauen nicht allein auf der Leinwand; ebenso schikanierte und quälte er sie im realen Leben. „Er unterwarf sie seiner animalischen Sexualität“, sagte später seine Enkelin Marina. „Er war ein Ungeheuer.“
Auch in moralischer Hinsicht scheint Picasso also aus der Zeit gefallen. Er wollte nicht zwischen Werk und Leben trennen; alle, die ihm nun Misogynie vorwerfen, wollen es ebenso wenig. Und sie wollen ihm ebenso wenig seine Begeisterung für Masken aus Afrika durchgehen lassen. Immer wieder hatte sich Picasso davon inspirieren lassen, vor allem für sein bekanntestes Werk, die Demoiselles d’Avignon von 1907. Ähnlich wie andere Künstler seiner Zeit suchte er nach den Urmächten der Kunst, nach Formeln, die alle individuellen Stil- und Formfragen in den Hintergrund drängen und universell gültig sein könnten. Auch diese Art von Universalismus, von essenzialistischem Denken, will heute kaum noch jemandem gefallen.
Schluss also mit Picasso, diesem, so Werner Spies vor 50 Jahren in seinem Nachruf, „Superlativ an Genie, Ruhm, physischem Dasein und Glück“? Ist er nur noch das Museumsstück seiner selbst?
Zumindest in einer Hinsicht erweist sich Picasso noch immer als quicklebendig: in seiner Begeisterung für das Unabgeschlossene. Er konnte, er wollte seine Kunst nicht vollenden, wollte keiner Masche aufsitzen, keinem Stil treu sein. Er glaubte nicht an die lineare Fortschrittsgeschichte, wie sie die Museen erzählen. Er liebte die Selbstverwandlung. Er wollte „weiter, immer weiter …“. Das Unabsehbare seiner Kunst hielt Picasso lebendig. Und könnte auch eine Gegenwart beleben, die von Offenheit träumt und von neuer Unbekümmertheit. Die Methode Picasso, seine bohrende Spiellust, ist noch immer die Methode Zukunft, immerhin.