Ostukraine: Die Schlacht um Pokrowsk begann schon vor zehn Jahren
In einem sind sich ukrainische, russische und US-Militärbeobachter einig. Wird Pokrowsk von der russischen Armee eingenommen, ist der Weg frei in Städte wie Kramatorsk und Slowjansk, sodass Russland bald das gesamte von ihm beanspruchte Donezker Gebiet militärisch kontrollieren könnte. Präsident Wladimir Putin scheint zum Sturm auf die Stadt entschlossen zu sein. Für ihn hat Pokrowsk Priorität – vor dem Zurückdrängen ukrainischer Truppen aus der Region Kursk. Die Führung der Ukraine ihrerseits hat entschieden, die Stadt massiv zu verteidigen. Von „absehbar intensiven Kämpfen“ im Raum Pokrowsk spricht Armeechef Alexander Syrski, und der ukrainische Militärexperte Alexander Mussijenko sekundiert, die „große Schlacht um Pokrowsk“ werde schon Mitte September beginnen.
Das Ergebnis wird voraussichtlich eine weitgehende Zerstörung der Stadt sein, wie sie zuvor bereits Awdijiwka und Bachmut ereilt hat. Westliche Analytiker halten es für wenig wahrscheinlich, dass die ukrainische Armee Pokrowsk länger als einige Wochen halten können wird. Dabei wird suggeriert, der Kampf zwischen Russland und der Ukraine um diese Stadt beginne erst jetzt. Doch umkämpft war sie – auch in bewaffneter Form – bereits vor zehn Jahren. Pokrowsk hieß seinerzeit noch Krasnoarmijsk und war in ihrer neueren Geschichte geprägt von der sowjetischen Industrialisierung. Allein von 1923 bis 1939 hatte sich die Einwohnerzahl mehr als verdreifacht, von 8.203 auf 29.617 Menschen. Krasnoarmijsk war eine Bergarbeiterstadt mit drei ergiebigen Kohleschächten. Dort lebte eine multiethnische, überwiegend jedoch russische Bevölkerung.
Noch 2001, zehn Jahre nachdem die Ukraine ihre Unabhängigkeit erklärt hatte, bezeichneten 60 Prozent der Stadtbewohner Russisch als ihre Muttersprache, 40 Prozent Ukrainisch. Wie im Großteil des Donbass tendierte im Frühjahr 2014 die Stimmung mehrheitlich dazu, den Machtwechsel in Kiew abzulehnen, der im Sog der Maidan-Proteste zustande kam. Seit April 2014 dann gehörte Krasnoarmijsk zum Aufstandsgebiet der „Donezker Volksrepublik“, die von der ukrainischen Führung als „separatistisch“ eingestuft wurde. Die neue Regierung in Kiew hatte im Donbass keine politische Basis. Dies zeigte sich auch darin, dass ein großer Teil der Bevölkerung von Krasnoarmijsk Warnungen von außen, unter anderem des damaligen deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, ignorierte und am 11. Mai 2014 an einem vom ukrainischen Staat nicht genehmigten Referendum für die Unabhängigkeit der Region teilnahm. Dabei kam es zu einem blutigen Zwischenfall, als vor einem Wahllokal zwei Bürger aus politischen Motiven erschossen wurden. Die Bluttat war die erste tödlich endende Konfrontation zwischen pro-ukrainischen und pro-russischen Kräften in der Stadt. Und sie hatte ein Nachspiel in den deutschen Medien. In den Tagesthemen behauptete der Moskauer ARD-Korrespondent Udo Lielischkies am 20. Mai 2014, die Männer seien durch „Kugeln der neuen Machthaber der Donezker Volksrepublik“ gestorben. Am 1. Oktober 2014 dann musste sich Tagesthemen-Moderator Thomas Roth für diesen Beitrag entschuldigen. Eine „Sichtung des Filmmaterials“ und eine „nochmalige Überprüfung der Fakten“ habe ergeben, dass die Todesschützen „Mitglieder eines ukrainischen Freiwilligen-Bataillons“ gewesen seien. Die ungesühnte Mordtat dieser „Freiwilligen“ beeinflusste das Verhältnis vieler Bewohner der Stadt zur Kiewer Staatsmacht, die Krasnoarmijsk im Juli 2014 militärisch einnahm, nachhaltig und negativ.