Osten Festival: Zu Händen Punks, Freaks und Fußballfans

Wolfen, die ehemalige Industrievorzeigestadt, der einstige Sitz der weltweit operierenden Film- und Fotofirma Agfa, in späteren DDR-Zeiten dann die Heimat des Erfolgsprojekts ORWO (ORiginal WOlfen) ist ein Dorf geworden. In Wolfen Nord, wo vor der Wende 36.000 Menschen lebten, sind es jetzt nur noch 5.000. Das riesige Areal der Film- und Chemiefaserproduktion, das Mekka des Fortschritts und der Innovation, verwandelt sich in ein Naherholungsgebiet, das man allerdings mit einem etwas mulmigen Gefühl betritt, denn es steht auf einer Giftmülldeponie. Das Grundwasser ist verseucht. Das Trinkwasser für die Bewohner wird durch Rohrleitungen aus weniger belasteten Gegenden bezogen.

Dass dieses Industriegebiet trotzdem den Eindruck einer grünen Idylle macht, ist verblüffend. Einheimische bezeichnen die üppige Vegetation als Wunder. Die wenigen Industriebauten, die von dem früher dicht bebauten Areal übrig geblieben sind, wirken wie von Künstlerhand verstreut, völlig willkürlich, ohne irgendeine zweckmäßige Anordnung. Das Osten Festival gibt es seit drei Jahren. Dieses Jahr findet es direkt in dem verfallenen Industrieareal statt. Es widmet sich dem Aufstieg und dem Niedergang der Region und vergleicht diese Prozesse mit ähnlichen in den USA und in der ehemaligen Sowjetunion.

Aber nicht ausschließlich. Die bildenden Künstler und Studierende aus Kunsthochschulen, die diese Landschaft mit Kunstwerken konfrontieren, haben ein sehr breites Kunstverständnis. Auch eine Kontaktanzeigenannahmestelle für lesbische Personen gehört beispielsweise dazu oder ein Stadtplan speziell für arbeits- und obdachlose Minderjährige. Die darstellenden Künstler machen hier nicht einfach Theater, sondern beziehen sich in ihren Arbeiten auf die Geschichte und die Gegenwart des Ortes, und sie suchen und finden den Kontakt zu den hier noch lebenden Menschen. Die schöne seit 2022 leer stehende Feuerwache bildet das Festivalzentrum, und sie ist zum Wahrzeichen geworden. Das liegt an der 20 Meter langen Wasserrutsche, die sich vom obersten Stockwerk bis zum Pool erstreckt und eine Attraktion ist für Kinder aller Altersgruppen – und mitten in der Nacht auch für die Fußballfans, die vom Public Viewing noch einen Umweg machen und planschend einen Sieg der deutschen Mannschaft feiern. Und sich mit den alten und jungen Punks und Freaks mischen, die dem Fußball ein Konzert der ältesten Wolfener Punkformation Abraum vorgezogen haben. Die Definition des Festivals von Aljoscha Begrich, einem der Macher: „ein großes Picknick für alle“, scheint sehr plausibel. Zwischen der Industriebrache, wo drei nach eigenen Angaben völlig überforderte Mütter, sie nennen sich Studio Urbanistan, Leipzig, ein Ballett mit drei Schaufelbaggern aufführen und gleichzeitig über Kopfhörer eigentlich tabuisierte Erfahrungen mit ihren Kindern und Männern preisgeben, zwischen dem seit vielen Jahren vor sich hin modernden Kino Wolfen, in dessen Geschichte und Gegenwart man durch einen Audiowalk eintauchen kann, finden wir neben der Wasserrutsche und dem von Studierenden der Hochschule für Gestaltung Frankfurt improvisierten Minigolfplatz, der Espressobar barista antifascista und der Poolbar mit Cocktails und internationaler Gastronomie – neben all diesen Besonderheiten also, finden wir auch ganz viel Kunst, die nicht immer wie Kunst aussieht, und ganz viel Theater, das auch nicht immer wie Theater aussieht. Und dann in der Nähe, im Rathaus, gibt es noch Lecture performances, die sich ästhetisch ebenfalls keinem Genrezwang unterwerfen.

In zweieinhalb Tagen bekommt man natürlich nur einen Bruchteil der Veranstaltungen mit, aber schon dieser Ausschnitt ist gewaltig. Im „Hörsaal“, der Spielstätte im Rathaus, wird beispielsweise unter dem Titel Ödipus in der Giftfabrik von Les Dramaturx der Zusammenhang von Artensterben und Ungeziefervernichtungsmitteln wie DDT untersucht und illustriert, inklusive meditativer Einfühlung in die Welt einer Raupe vor ihrer Verpuppung zum Schmetterling. Eine Künstlergruppe aus New York (Oscar Olivo, Amy Trompetter und Elsa Saadi) berichtete über industriebedingte Verheerungen in Rochester, dem Standort der amerikanischen Kodak-Filmproduktion, und über die zahlreichen Analogien zu Wolfen. Die ukrainische Tänzerin Maryna Makarenko widmete sich den schleichenden Vergiftungsprozessen bei der Filmherstellung in der ehemaligen Sowjetunion.

Wurden in der DDR heimlich lesbische Pornofilme gedreht? Gut möglich

Vor dem lokalen und dem globalen Hintergrund wird das Festival zu einem völlig zwanglosen Akt der Begegnung zwischen Künstlerinnen, Künstlern, Performerinnen und Performern mit der ortsansässigen Bevölkerung und den angereisten Zeugen aus der Zeit, als hier alles toll war. Die Parole „Den Westen überholen, ohne ihn einzuholen“ schien Wirklichkeit zu werden, zumindest wenn man nicht so genau hinschaute, wie beispielsweise der drei Tage vor Festivalbeginn gestorbene Dokumentarfilmer Thomas Heise das getan hat. Ihm war im Jugendclub 84 eine Retrospektive seiner Filme aus den Wendejahren gewidmet. Sie erwiesen sich als so etwas wie die dokumentarische Basis für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Vorstellungen waren immer überfüllt. Es gab auch einen – eigentlich fiktiven – Dokumentarfilm von Lynn T. Musiol über die klandestine Produktion von lesbischen Pornofilmen in den „überhitzten Dunkelkammern“ der Filmfabrik. Einige ältere Zuschauerinnen, die damals in diesen Dunkelkammern gearbeitet hatten, empfanden ihn als durchaus realitätsnah: „Dass es keine Dokumente darüber gibt, heißt nicht, dass da nicht Derartiges stattgefunden hat.“

Die Festivalmacher haben sich im Vorfeld mit der Geschichte dieses Ortes ausführlich beschäftigt. Die Einwohner fühlten sich nicht überfallen von ahnungslosen oder arroganten Besserwissern auf Durchreise, sondern ernst genommen und herausgefordert. Viele Initiativen und Institutionen aus Bitterfeld, Wolfen und Umgebung waren beteiligt. Die aus Berlin angereiste Theatergruppe „Das Helmi“ mit ihren echten Schauspielern und ihren Figuren aus Schaumgummi und anderen Materialien hatte sich schon vor dem Festival mit Menschen mit Behinderung angefreundet, die von der Diakonie in Wolfen-Gräfenhainichen betreut werden. Die Story des DDR-Kultfilms Paul und Paula bildete eine lockere Grundlage für ein unwahrscheinliches Spektakel, in dem exemplarisch ein Glück gesucht und gefunden wird, ein Glück, in dem niemand fremdbestimmt ist. Dieses Theaterfest war gleichzeitig ein Exempel für die, wie es hieß, „prozessbasierte“ Zusammenarbeit von unterschiedlichsten Menschen ohne jede pädagogische oder therapeutische Absicht.

„Wenn Kunst wie Kunst aussieht, ist sie Kitsch, und wenn Kunst nicht wie Kunst aussieht, ist sie einfach keine Kunst. Um als Kunst zu gelten, muss Kunst ein Paradox erfüllen, sie muß wie Kunst und gleichzeitig wie Nicht-Kunst aussehen.“ Das sagte der Kunsttheoretiker Boris Groys in seinem Kommunistischen Postskriptum. Im Zeichen der Wasserrutsche wurde dieses Paradox in Wolfen 16 Tage lang gelebt. Beim nächsten Festival sollte es dann vielleicht eine Achterbahn geben.