Organspende: Wie wäre eine Pflicht zum Nachdenken?

Axel Ockenfels ist Professor an der Universität zu Köln und Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern und einer der bekanntesten Verhaltensforscher Deutschlands. Zusammen mit dem emeritierten Philosophen Hartmut Kliemt, Gastprofessor an der Uni Gießen, beschäftigt er sich mit der Frage, wie sich die Zahl der Organspenden in Deutschland erhöhen lässt.

Aus der Verhaltensforschung wissen wir: Nicht nur
die Parameter einer abstrakten Entscheidungssituation zählen, sondern auch die Art, wie diese präsentiert werden. Besonders wirksam sind
zuweilen Standards, die dort einspringen, wo eine aktive Entscheidung fehlt: Wenn –
solange nicht widersprochen wird – beim Stromanbieter automatisch die
Ökostrom-Option gewählt wird, der Arbeitgeber einen Teil des Einkommens automatisch
in eine Altersvorsorge einzahlt oder man automatisch als Organspender
registriert ist, dann gibt es mitunter deutlich mehr Ökostromverträge, mehr
Altersvorsorge und mehr Organspender.

Die Regelungen zur Organspende befinden sich weltweit im Umbruch, auch in Deutschland. Unterschiedliche Konzepte werden diskutiert, neue Richtlinien entwickelt und deren Auswirkungen auf Akzeptanz und Verhaltensänderungen wissenschaftlich analysiert. Einfache Lösungen zeichnen sich nicht ab; aber Verbesserungen scheinen möglich, sodass es lohnt, neue Perspektiven in die Debatte einzubringen, abseits der beiden Konzepte Widerspruchslösung oder Zustimmungslösung. Bei der Widerspruchslösung gilt jede Bürgerin und jeder Bürger als möglicher Organspender, der zu Lebzeiten nicht aktiv widersprochen hat. In Deutschland gilt dagegen zurzeit die Zustimmungslösung: Grundsätzlich kann nur, wer sich aktiv dafür entscheidet, Organspender sein.

Eine berühmte Studie hat festgestellt, dass in europäischen
Ländern mit Widerspruchsregelung die Zahl der Organspender im Durchschnitt um
fast 60 Prozentpunkte höher lag als in Ländern mit Zustimmungsregelung. Dies spricht auf den ersten Blick für die Widerspruchslösung.

Umstrittene Widerspruchslösung

Doch sie ist umstritten. So wenden etwa Juristen dagegen ein, dass
der Staat so das Unterlassen einer Willenserklärung einfach zu einer
Willenserklärung erhebt. Aus einem Unterlassen weitreichende Befugnisse zur
postmortalen Entnahme menschlicher Organe und deren Überführung in
Gemeineigentum abzuleiten, scheint nicht zu dem Willen des Gesetzgebers zu
passen, Menschen an anderer Stelle vor der Verführung durch Standards zu
schützen. Bestes Beispiel sind die Datenschutzrichtlinien, die jeder etwa aus dem Internet kennt: So ist es den
Diensteanbietern gesetzlich untersagt, bei Nutzern, die der Verwendung ihrer
privaten Nutzerdaten nicht ausdrücklich widersprochen haben, eine Einwilligung
in eine solche Verwendung zu unterstellen. 

Das Fehlen einer Willenserklärung
kann auch aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht nur unter besonderen Umständen
als informierte Einwilligung gewertet werden. Auch die Hinterbliebenen sehen das so. Denn wenn sie in die abschließende Entscheidung über den Willen des Verstorbenen einbezogen werden, passiert oft Folgendes: Sie nehmen den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen zur Organspende bei
der Zustimmungsregelung als aussagekräftiger wahr als bei der
Widerspruchsregelung. 

Dies aber trägt zu einem Paradox bei: Die Zahl der als
Spender klassifizierten Verstorbenen steigt zwar stark an, nicht aber die
tatsächlich realisierten Organspenden: Diese sind in der oben genannten Studie nur von durchschnittlich 14,1 Prozent auf 16,4
Prozent angestiegen. Allerdings sind die Erfahrungen in
den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Ob ein Anstieg der als
Organspender eingestuften Personen auch zu einem Anstieg der Organspenden
führt, hängt von der genauen Ausgestaltung der Widerspruchsregelung, den
Abläufen und dem Verhalten der Ärzte in den Krankenhäusern und anderen Faktoren
ab. Auch die in den nächsten Jahren zu erwartende stärkere Konzentration von
Intensivstationen in den Krankenhäusern wird sich auf die Entnahmezahlen
auswirken. Vor diesem Hintergrund erscheint die Diskussion um die
Widerspruchsregelung zu kurz gegriffen.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die aktuelle
Diskussion ist richtig und wichtig, und die Widerspruchslösung kann helfen, den
Organmangel einzudämmen
. Aber vielleicht können wir Gutes noch besser machen, wenn
wir über die Widerspruchslösung hinaus eine längst überfällige, evidenzbasierte und
verhaltenswissenschaftlich fundierte Analyse anstoßen, mit welchem Maßnahmenmix
der in Deutschland besonders große Organmangel reduziert werden kann.

Wie wäre eine „Erklärungslösung“?

Geht es etwa darum, möglichst viele Menschen als Organspender zu
registrieren? Oder geht es darum, möglichst viele Menschen dazu zu bewegen,
sich mit dem Thema auseinanderzusetzen? Beides, aber besonders Letzteres könnte eher durch eine „Erklärungslösung“ erreicht werden: Ein Personalausweis oder Führerschein wird nur dann ausgestellt, wenn der
Antragsteller gegenüber dem Transplantationsregister erklärt hat, ob er (a)
potenzieller postmortaler Spender sein will, (b) nicht sein will, (c) die
Entscheidung an die Familie delegieren will oder (d) sich nicht zur Organspende
äußern will. Dies
hätte den Vorteil, dass die Diskussion in die Gesellschaft getragen wird und dass in den Fällen a, b oder c nicht mehr davon ausgegangen werden müsste, dass das
Fehlen einer Entscheidung einer Willenserklärung gleichkommt.

Auch die Erklärungslösung kann nicht garantieren, dass die Entscheidung zur
Organspende wohlüberlegt ist. Eine Erklärungslösung wäre aber nicht mit einem
Spendestandard (Widerspruchsregelung) oder einem Nicht-Spendestandard
(Zustimmungsregelung) verbunden, sondern mit der Erwartung, dass sich die
Menschen zumindest einmal mit der Frage auseinandersetzen. Damit kann die Zahl
derer, die im Todesfall durch Dritte in Spender und Nichtspender eingeteilt
werden müssen, verringert werden.

Es gibt im
Übrigen noch andere Präsentationseffekte, die wirksam sein können. So zeigt
eine Studie aus England mit mehr als einer Million Teilnehmern, dass durch eine
einfache Umformulierung des Aufrufs, sich als Organspender registrieren zu
lassen, die Zahl der Registrierungen um mehr als 100.000 pro Jahr erhöht werden könnte. Am effektivsten war der Hinweis auf Gegenseitigkeit: „Würden Sie eine
Organtransplantation wünschen
, wenn Sie eine bräuchten? Dann helfen Sie bitte
auch anderen.“

Die Mobilisierung von Hilfsbereitschaft durch die vorangehende Frage erscheint
harmlos genug, kann aber auch zu tiefen ethischen Konflikten führen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das
Ideal der solidarischen Gegenseitigkeit nicht nur abstrakt angesprochen wird, sondern sogar mit konkreten Vor- und Nachteilen beim Zugang zu
Transplantaten verbunden wird. Die Erklärungslösung hat demgegenüber den
Vorteil, dass sie, abgesehen von der Zumutung, sich entscheiden zu müssen,
ethisch weniger kontrovers sein dürfte. Dazu trägt auch bei, dass sich Zumutungen
ohnehin nicht immer vermeiden lassen: Wer sich zu Lebzeiten nicht
entscheiden will, riskiert, dass die Angehörigen diese Entscheidung für den
Verstorbenen in einer emotional äußerst schwierigen Situation treffen müssen. 

Die Erklärungslösung sorgt dafür, dass die Frage zu Lebzeiten gestellt, diskutiert und entschieden wird. Da mehr als 80 Prozent der Befragten in Umfragen einer Organ- und Gewebespende positiv gegenüberstehen, dürfte dies Leben retten helfen.