Oper | Oper „Die Frau ohne Schatten“: Orakel, Blut und Kindergarten

Es hätte der Höhepunkt der Zusammenarbeit des Dichterfürsten und des Komponistengenies werden sollen. Doch die Kooperation erwies sich als schwierig, nicht nur weil der Erste Weltkrieg dazwischenkam, sondern weil Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss’ Vorstellungen von Anfang an auseinanderdrifteten. Während von Hofmannsthal auf einer symbol- und bedeutungsschwangeren Märchenoper bestand, schwebte Strauss schon 1911, zu Beginn der Arbeit an Die Frau ohne Schatten, eine moderne Charakterkomödie vor, „mit wirklich interessanten Menschen“.

Was der Dichter in den kommenden Jahren lieferte, schien Strauss jedoch von solch „akademischer Kälte“ zu sein, dass zumindest den dritten Akt „kein Blasebalg zu wirklichem Feuer anblasen“ könne. Beim 1917 abgeschlossenen „gemeinsamen Hauptwerk“ einigten sie sich schließlich darauf, die „letzte romantische Oper“ auf die Bühne zu bringen. 1919 in Wien erfolgreich uraufgeführt, wurde sie von der Kritik teilweise schon damals als „Versagen“ (Paul Bekker) verworfen. Mit ihr habe sich Strauss, so urteilte später der Musikwissenschaftler Michael Walter, aus der Moderne verabschiedet.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Die Frau ohne Schatten eine der seltener gespielten Strauss-Opern ist und angesichts der verrätselt-altertümlichen Sprache kaum zu brachialer Aktualisierung herausfordert. Der zugriffsfreudige, seit der Spielzeit 2022 an der Deutschen Oper Berlin tätige Regisseur Tobias Kratzer hat sich im dritten Teil seiner Strauss-Trilogie dieser Aufgabe gestellt und schon im Gespräch in der Opernwerkstatt klargestellt, dass ihn der Hofmannsthal’sche Märchenschnickschnack nicht die Bohne interessiere. Nach Kratzers vorangegangenen Inszenierungen der bürgerlichen Komödie Intermezzo (1924) und von Arabella, im Juni 1933 uraufgeführt und ein „Lieblingsstück der Nazis“, war das auch kaum zu erwarten, selbst wenn der Regisseur im Fall von Arabella inhaltlich auf die modern anmutenden mäandernden Geschlechtsidentitäten abhebt, das Stück aber vor historisierendem Hintergrund ablaufen lässt.

Nun also Die Frau ohne Schatten, die Geschichte zweier ungleicher Paare, die das Schicksal verbindet, keine Kinder bekommen zu können: das Kaiserpaar zum einen und die im proletarischen Milieu angesiedelte Frau des Färbers Barak, die ihrem Mann den „Schatten“ verweigert, wie Hofmannsthal den Nachwuchs ästhetisierend überhöht. Der aus einer Gazelle entschlüpften feengleichen Kaiserin obliegt es, sich ein Kind zu verschaffen. „Die Frist ist bald verstrichen, und doch wirft die Frau keinen Schatten – so muss der Kaiser zu Stein werden“, heißt es im Orakel Keikobards, ihres Geistervaters. Sie macht sich mit ihrer ehemaligen Amme auf den Weg in die Menschenwelt und trifft auf das Färberpaar, dem die Amme (Marina Prudenskaya in einer Mischung aus Geschäftsfrau und übergriffiger Schwiegermutter) Wohlstand verspricht, wenn die Färberin ihren Körper verkauft. Zu Anfang ist diese unentschlossen, mit dem ihr zugeführten Lover ins Bett zu steigen.

Was sich bei Hofmannsthal/Strauss auf einer märchenhaften südöstlichen Insel abspielt, wo ein Falke, leitmotivisch-musikalisch untermalt, als Sex-Symbol kreist und Geister ihr Wesen treiben, transponiert Kratzer in ein radikales Jetzt, das die Klassenmerkmale herausstellt: hier das luxuriöse Designerinterieur mit Flügel, dort der Waschsalon mit dem schwer malochenden Färberpaar, zwischen Reinigungsmaschinen, Bügelbrett und Kleiderstangen hervorragend gespielt von Jordan Shanahan und Catherine Foster. Unverkennbar trägt die geteilte Simultandrehbühne, die beim musikalischen Tempo von Dirigent Sir Donald Runnicles mithalten muss, die Handschrift des Ausstatters Rainer Sellmaier. Der Falke tritt nur noch als Stofftier verkleinert auf.

Eine Exposition wie im Bildermärchenbuch also, allerdings auch wie aus dem Katalog der jährlich stattfindenden Kinderwunschmessen – bis hin zu den Luftballons bei der grandios inszenierten Baby-Shower-Party im dritten Aufzug. Denn so in die Gegenwart verpflanzt und von symbolischem Ballast befreit, erhält das Allermenschlichste der (Märchen-)Literatur, der Kinderwunsch, eine neue Brisanz. Wer muss, kann, soll, darf, will Kinder bekommen und mit welchen Mitteln? In der Musikliteratur wird oft darauf hingewiesen, dass das Finale der Oper eine kinderhymnische Reaktion auf das Menschenschlachten im Ersten Weltkrieg sei. Offenbar weiß keiner der Autoren von der Gebärstreikdebatte von 1913 unter den sozialdemokratischen Frauen, die sich – buchstäblich mit ihrem Körper – gegen den Krieg einsetzten. Die Färberin könnte eine von ihnen sein.

Den Jüngling verschmäht die Färberin, aber Barak wünscht sich ebenso ein Kind, wie die Kaiserin zu einem kommen muss. Der Falke, der schon beim Kaiserpaar versagt hat, macht auch hier schlapp. Es geht ein bisschen hin und her, die Kaiserin trifft auf Barak, während die Färberin „zum Lebenswasser! Zur Schwelle des Todes!“ kommt. Eine der eindringlichsten Szenen der Inszenierung: Catherine Foster, in ihrem ersten Leben Hebamme, ist auf Großvideo eingeblendet, auf einem Gynäkologenstuhl, wo sie als Leihmutter künstlich befruchtet wird. Alles extrem realistisch, in Großaufnahme das entschlossen-furchtsame Gesicht. Stecknadelstille im Auditorium, nur das brausende Großorchester im Graben. Manch ein Geschockter verlässt nach dem zweiten Akt der über dreistündigen Inszenierung das Haus.

Die Videoinstallation gehört zu Kratzers Repertoire, brillant komisch im ersten Aufzug, als das Menschenglückslied der Wächter konterkariert wird vom Schlagerschmalz auf der Leinwand. Im Fall des Leihmutterdramas wirkt sie schockartig, zumal wenn der Färberin nach der Fehlgeburt auf der Bühne das Blut zwischen den Beinen herunterläuft. Im dritten Aufzug indessen, der das frustrierte Färberpaar zuerst in die Paartherapie schickt und dann doch zum Scheidungsanwalt, während sich Clay Hilley als robust-schmetternder Kaiser und seine ätherische Kaiserin (Daniela Köhler) wieder annähern, kommt wie schon der Komponist auch Kratzer in die Bredouille.

Zwar überzeugt Daniela Köhler als Kaiserin, die sich von den an sie herangetragenen Erwartungen emanzipiert („Ich will nicht!“), und auch das Trennungsszenario kann durchgehen. Doch was Kratzer so freihändig ins heutige Beziehungsleben überträgt, beißt sich an vielen Stellen mit dem Fruchtbarkeitspathos der Vorlage (das heutige sogenannte Lebensschützer begeistern könnte) und bleibt am Ende unentschlossen. Den 1919 gefeierten Kindersegen verlegt der Regisseur in einen Kindergarten, aus dem der „Chor der ungeborenen Kinder“ ertönt und von dem Barak, nun wohl alleinerziehend, sein Töchterchen abholt. Das Glück kennt multiple Lebensentwürfe, nun ja. Aber das Drama, um das es eigentlich ging, wird damit – zu harmlos – befriedet.

Die Frau ohne Schatten Musik: Richard Strauss, Libretto: Hugo von Hofmannsthal, Regie: Tobias Kratzer, musikalische Leitung: Sir Donald Runnicles Deutsche Oper Berlin