Ohrwurm aus Sylt-Video aufwärts Tiktok: Was heißt hier Skandal?

Wann ist der Skandal ein Skandal? Eine Frage, die sich notwendigerweise an die Empörung über das Video der Naziparolen grölenden Rich Kids von Sylt anschließt. Denn, wenn es um die rechtsextreme Textabwandlung der 2000er-Hymne „l’amour toujours“ von Gigi D’Agostino geht, dann waren die reichen Zöglinge im Pony-Club a little late to the party. Anders gesagt: Auch sie folgten mit dem Nachsingen der Skandalzeilen nur einem Trend, der auf Tiktok bereits seit Oktober 2023 läuft. Warum also wurde ausgerechnet das Sylt-Video zum Skandal? Und mit welchen Folgen?

Es dauerte ganze sieben Monate, bis die Textzeilen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“, auf Sylt und damit an prominenter Stelle der medialen und politischen Empörungsökonomie Deutschlands ankamen. Sieben Monate: Von Mitte Oktober 2023, als das Onlinemagazin Katapult MV erstmalig einen Fall dokumentierte, bei dem im Dorf Bergholz in Mecklenburg-Vorpommern ein gesamtes Festzelt und darin auch der Sohn des Pasewalker Bürgermeisters die Nazigesänge anstimmten, bis zum 24. Mai 2024, als Bundeskanzler Olaf Scholz die rassistischen Parolen als „nicht akzeptabel“ verurteilte.

Seit sich in sozialen wie klassischen Medien, in Talkshows, Kommentarspalten und am Stammtisch das ganze Land mit dem Sylt-Skandal beschäftigt, poppen weitere solcher Videos auf. Selbst die FAZ erstellte zuletzt eine Deutschlandkarte, auf der zu sehen ist, wo und wann die „Ausländer raus“-Gesänge in Online-Videos auftauchten: Seit Oktober 2023 listet sie 34 Berichte aus ganz Deutschland auf, mitsamt dem traurigen Höhepunkt am 25. Mai, als von der Schlagerparade auf St. Pauli gleich sechs Videos an einem Tag hochgeladen wurden. Auch in einem Video vom Landesparteitag der AfD im bayrischen Greding grölten die Teilnehmer im Januar 2024 fröhlich mit.

Nazi-Trendhopping

Offensichtlich fühlten sich die Nachahmer durch die Empörung und den Skandal rund um das Sylt-Video eher angespornt als abgeschreckt. Verwunderlich ist das nicht, denn neben den klassischen Qualitäten eines Ohrwurms – ganz so, wie Gigi D’Agostinos Partybanger seit jeher funktioniert – ist das Prinzip des Nazi-Trendhoppings böse wie banal: Je größer die Empörung, desto größer die Lust am kalkulierten Regelbruch. Eine Marketingstrategie, die die Werbebranche schon vor den sozialen Medien kannte und die besonders die AfD in der Medienökonomie der Gegenwart, allen voran auf Tiktok, zu nutzen weiß.

Ein kalkulierter Regelbruch war es wohl auch, der gerade das Video von Sylt und nicht seine Vorgänger aus Bergholz, Solingen oder Calw zum deutschlandweiten Skandal werden ließ. Denn Medienskandale im Allgemeinen und die Sozialer Medien wie Tiktok im Speziellen, brauchen reizbare Stereotype, um ihre Wirkung zu entfalten: So scheint es im deutschen Diskurs nur wenig Affekte zu bündeln, wenn in schummrigen Festzelten betrunkene Jugendliche Naziparolen grölen und rassistisch agitieren – das ist man dank Hubert Aiwanger, Björn Höcke und auch Friedrich Merz ausreichend gewöhnt oder man greift gelangweilt auf die biografischen Referenzen der eigenen deutschen Provinzjugend zurück.

Was allerdings verfängt, sind Zöglinge der Oberschicht. Die tanzen enthemmt zwischen weißen Sanddünen und der chromschwarzen Mercedes G-Klasse zu „Ausländer raus“ – mit der einen Hand die pisswarme Magnumflasche Moët umklammernd, die andere zum Hitlergruß erhoben. Das Ganze wird auch hier ohne Angst vor Konsequenzen als Video aufgezeichnet und verschickt. Gesagt sei: Es verfängt zu Recht, Empörung ist angebracht. Zum Skandal taugt diese Zuspitzung allerdings nur, wenn man den Eisberg darunter ignoriert – wenn man ignoriert, dass selbst die monatelang auf Tiktok zirkulierenden Videos ähnlicher Vorfälle nur Ausdruck eines viel größeren Problems sind: der Normalisierung von Nazi-Parolen wie „Deutschland den Deutschen“.

Slogan der „Baseballschlägerjahre“

Und die hat Tradition: Auch im Fall des Propaganda-Remixes von „l’amour toujours“ berichten gerade ostdeutsche Jugendliche, den Song in dieser Form schon aus ihrer Kindheit um die Jahrtausendwende herum zu kennen. Der Slogan selbst, ein Produkt der sogenannten „Baseballschlägerjahre“ der 1990er. Die Zeit der deutschen Wiedervereinigung, in der dank Nationaltaumel und Abwertungserfahrung vieler Ostdeutscher, Neo-Nazis von der NPD bis zur CSU-Splitterpartei Die Republikaner (REP) den in Deutschland historisch und kulturell tief verankerten Rassenwahn subkulturell popularisierten – ihn zur transgressiven Revolte, zum jugendlichen Regelbruch stilisierten.

Wird nun ausgerechnet die wohlstandsverwahrloste Syltjugend zum Skandal, dann sagt das auch etwas über den Grad und die klassistische Form der Verdrängung des Rechtsextremismusproblems in Deutschland aus. Noch dazu verhilft es rechtem Gedankengut zur weiteren Verbreitung und letztlich zur fortgesetzten Normalisierung. Das hat zwei Gründe: Zum einen scheint das Stereotyp der Rich Kids, die auch Nazis sind, ein echter Game Changer zu sein, ein Regelbruch und ein Bild, das in den übersättigten Newsfeeds genauso wie in den Köpfen vieler Deutscher noch verfängt, weil es irritiert. Zum anderen ist es die Aufmerksamkeitsökonomie eines solchen Regelbruchs, mit dem sich gerade auf Tiktok und anderen Plattformen Reichweite und damit Einfluss gewinnen lässt.

Das ist zuletzt auch an den Reaktionen online ablesbar. Zu jedem Video, in dem die Abgehobenheit der Oberschicht gescholten oder betont wird, gerade diejenigen, die über so viel Geld, gesellschaftliche Verantwortung und Bildung verfügten, müssten es doch besser wissen, gibt es mindestens ein Video, in dem der initiale Song, seine Message und der ganze Mediendiskurs drumherum mitaufgenommen und als neuer Content gesampelt werden. Der gestaltet sich auf Tiktok zumeist in Form von humoristischen Clips, in denen sich beispielsweise Migranten mit der Stitch-Funktion ins Originalvideo auf Sylt collagieren, bei der Passage „Ausländer raus“ mitsingen oder sich allgemein in parodistischer Aneignung des Skandals versuchen. Gleichzeitig finden immer mehr Tiktoks Verbreitung, in denen das Nachsingen der Nazi-Slogans, sogar ohne die Textzeilen auszusprechen, zum rebellischen Akt, ergo zum Regelbruch stilisiert wird. Ganz besonders, seit Tiktok durch Contentmoderation Videos blockiert, die Gigi D’Agostinos Song mit Nazicodes bespielen.

Am Ende braucht es die Slogans und Codes nicht mal mehr. Die laufen schon jetzt im Kopf mit, sobald irgendwo D’Agostinos ikonische Fanfaren ertönen. Auf Tiktok ist es genau dieses mimetische Prinzip, mit dem das fehlende und noch dazu verbotene Puzzleteil selbst hinzugefügt wird, das zu Nachahmung und damit zu Klicks, Aufmerksamkeit und Verschiebung der Wahrnehmung führt. Verschoben werden kann die, weil Empörungswellen eben nicht aufklären, sondern das Falsche nur richtig falsch machen.