Offenbach | Lehrer zu Haftbefehl-Doku: Meine Kids in Offenbach wollen darüber reden

Die Netflix-Doku über Haftbefehl zeigt eine persönliche Geschichte, doch ein Lehrer in Offenbach erkennt die größeren Zusammenhänge. Er sieht, wie soziale Ungleichheit und Bildungsbarrieren das Leben von Jugendlichen prägen


Die Schule war kein guter Ort für Haftbefehl – für viele andere Kinder in Offenbach auch nicht

Foto: Tarek Mawad


Ich unterrichte Geschichte und Sport in Offenbach, dort, wo der Rapper aufwuchs. Die Netflix-Doku über den Künstler hat mich berührt und nachdenklich gemacht. Nicht, weil ich ein riesiger Fan von Hafti Abi bin, sondern weil sie Erfahrungen zeigt: Was bedeutet Schule für Jugendliche?

Der Rapper erzählt in der Netflix-Doku, dass die Schule kein guter Ort für ihn war. Vielleicht, weil er sich dort nie wirklich verstanden, gesehen oder ernst genommen gefühlt hat.

Genau das zeigt, wie unterschiedlich Schule erlebt werden kann: Für manche ist sie ein sicherer Raum – für manch anderen ein Ort, an dem man einfach nicht ankommt.

Und genau das begegnet mir auch im Schulalltag: Manche kommen morgens ohne Frühstück, manche wirken abwesend oder bringen nichts mit, aber fast immer steckt eine Geschichte dahinter. Manchmal ist es die Müdigkeit, manchmal die Verantwortung zu Hause, manchmal einfach nur das Gefühl, nicht dazuzugehören.

Gerade hier in Offenbach ist das Thema so präsent wie kaum woanders. Schule darf nicht nur ein Ort von Heften, Klassenarbeiten und Hausaufgaben sein, sondern auch ein Ort zum Leben: ein Platz, an dem Kinder und Jugendliche gesehen, verstanden und ernst genommen werden.

Die Doku lässt viele systemische Fragen offen

Auffällig ist, dass die Doku die gesellschaftlichen Strukturen kaum beleuchtet, obwohl sie das Aufwachsen dieser jungen Menschen stark beeinflussen. Stattdessen liegt der Fokus auf persönlichen Erlebnissen und individuellen Entscheidungen. Doch gerade in einer Stadt wie Offenbach, wo viele Kinder in schwierigen Verhältnissen aufwachsen, ist es wichtig, die größeren Zusammenhänge zu betrachten.

Der Film zeigt, wie Haftbefehl in einem Umfeld voller Instabilität, Konflikte und Unsicherheit lebt. Sein Vater hat zwar viel Geld, doch die Herkunft bleibt unklar. Statt Sicherheit zu schaffen, verstärkt er das Chaos. Viele Jugendliche in meinem Unterricht kennen diese Belastungen. Sie kämpfen nicht nur mit materiellen Sorgen, sondern auch mit Verantwortung, Druck, Überforderung, ständigen Veränderungen und innerer Unruhe.

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Die Doku streift diese Themen zwar, lässt aber viele systemische Fragen offen: institutioneller Rassismus, ungleiche Bildungschancen, soziale Ungleichheit und städtebauliche Segregation. Diese Faktoren prägen das Leben vieler Kinder und Jugendlicher in Offenbach, werden im Film jedoch nur am Rande gestreift.

Besonders eindrucksvoll ist die fehlende Darstellung der Mutter des Rappers: eine alleinerziehende Frau mit drei Jungs. Sie steht stellvertretend für viele Frauen, deren Arbeit kaum gesellschaftliche Anerkennung findet.

Junge Menschen leiden heute besonders unter Stress und mentalem Druck

Ähnlich verhält es sich mit Haftbefehls Partnerin, die über Jahre hinweg Verantwortung für Kinder, Alltag und emotionale Stabilität trägt. Kurz zeigt die Doku ein Jugendzentrum, in dem Haftbefehl seine ersten musikalischen Schritte macht. Solche Einrichtungen sind für viele Jugendliche in Offenbach wichtig, weil sie dort Anerkennung, Orientierung und Sicherheit finden.

Doch auch hier bleibt der Film oberflächlich und konzentriert sich auf individuelle Geschichten statt auf die strukturellen Bedingungen, die das Aufwachsen prägen. Die Zahl psychischer Belastungen bei Kindern und Jugendlichen steigt seit Jahren. So weist die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrer jüngsten Studie darauf hin, dass jeder siebte Mensch unter 20 Jahren psychische Probleme hat. Junge Menschen leiden heute besonders unter Stress, Unsicherheit, familiären Sorgen und mentalem Druck.

Diese Hintergründe gehören im schulischen Alltag zu den häufigsten Herausforderungen fürs Lernen und Wohlbefinden. Lehrkräfte brauchen deshalb einen sensiblen Blick, um Kinder vor einem Kreislauf aus Stress, Konflikten und negativen Zuschreibungen zu bewahren.

Kein Gegensatz: Goethe und Haftbefehl

Bedauerlich ist die Zurückhaltung einiger bildungspolitischer Entscheidungsträger, die Doku im Unterricht einzusetzen. Jugendliche wünschen sich, dass ihre Lebenswelten im Unterricht vorkommen. Ignoriert man solche Impulse, verliert man die Chance, Schule näher an die Realität der Schülerinnen und Schüler zu bringen.

Der Film bietet dafür zahlreiche Anknüpfungspunkte: In Politik oder Geografie lassen sich Segregation, Migration, Aufstiegsbarrieren und Stadtentwicklung vertiefen. Im Deutschunterricht könnten Sprache, Mehrsprachigkeit und Ausdrucksweisen analysiert werden, und im Musikunterricht könnten Rhythmik, Flow und sprachliche Gestaltung untersucht werden. In Biologie und Chemie lassen sich die Folgen von Drogen thematisieren. Im Ethikunterricht bieten sich Themen wie Verantwortung, Gerechtigkeit und Zusammenhalt an.

Goethe und Haftbefehl sind kein Gegensatz. Goethe steht für das klassische kulturelle Erbe, Haftbefehl für heutige Lebensrealitäten. Beides zusammen zeigt die Vielfalt unserer Gesellschaft.

Murat Şaşmaz unterrichtet Sport und Geschichte in Offenbach (Hessen). Auf Instagram erzählt er als @herr.sasmaz aus seinem Arbeitsalltag an der Schule.