„Nur Indien kann China ersetzen“
Zu sagen, er möge Indien nicht, würde Gunther Kegel unrecht tun. Bevor er am Mittwoch zur Asien-Pazifik-Konferenz in Delhi einflog, war der Vorstandschef des Mannheimer Automatisierungsausrüsters Pepperl+Fuchs in Bengaluru, wo das Mannheimer Unternehmen einen Standort hat. „So einen Flughafen haben wir in ganz Deutschland nicht“, begeistert sich Kegel im Gespräch mit der F.A.Z. am neuen Terminal in Indiens IT-Hauptstadt, von dessen Decke ganze Gärten hängen und in dem ein Wasserfall rauscht wie im berühmten Airport Singapurs.
Doch Kegel ist auch Präsident des Verbands der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI), der die hinter dem Maschinenbau nach Beschäftigten zweitgrößte Industriebranche Deutschlands vertritt. Die deutsche Wirtschaft denkt in diesen Tagen in Indiens Hauptstadt mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) darüber nach, ob das bevölkerungsreichste Land der Welt der deutschen Wirtschaft ihre Umsätze retten kann. Kegel stellt bei dieser Frage alle Schwärmereien ein: „Bei anderer Infrastruktur als Flughäfen hängt Indien noch massiv hinterher“, sagt der Manager – anders als die gigantische Volkswirtschaft in direkter Nachbarschaft: „Die Inder haben ihr eigenes Tempo. Das ist mit den Chinesen nicht vergleichbar.“
Indien hinkt hinterher
Kegel muss nur auf die Zahlen im eigenen Unternehmen gucken, das elektronische Bauteile für die Automatisierung in Fabriken herstellt. Seit Anfang der Neunzigerjahre ist Pepperl+Fuchs in beiden Ländern vertreten. „Obwohl wir in Indien etwa zur gleichen Zeit wie in China gestartet sind, sind die Entwicklungen komplett auseinandergelaufen.“ Während der Umsatz in der Volksrepublik in der Spitze 200 Millionen Euro betrug und damit über ein Fünftel des Gesamterlöses ausmachte, ist er in Indien bis heute auf gerade mal 50 Millionen Euro geklettert. Bei der Fabrikation von Stückgut, also der Herstellung von Autos bis zu Kühlschränken, hinkten die Inder den Chinesen bis heute dramatisch hinterher. Auf dem Subkontinent führen Hunderttausende Arbeiter an Industriestandorten aus Ermangelung von Bus und Metro immer noch mit dem Motorroller zur Arbeit. Nur zehn Prozent der Menschen im Land seien Wohnungseigentümer.
Allerdings geht es Deutschlands Elektronikbranche gerade schlecht, und das liegt neben der Schwäche im Heimatmarkt vor allem an China. Der ZVEI erwartet, dass die Produktion im laufenden Jahr gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 7 Prozent geringer ausfällt. „So stark wie unsere Branche derzeit schrumpft, habe ich es in 30 Jahren nicht erlebt“, sagt Kegel. Pepperl & Fuchs macht in der Volksrepublik ein Viertel weniger Umsatz als noch vor zwei Jahren. Die Verluste könne nur ein Land auf der Welt auffangen. „Indien ist in absehbarer Zeit der einzige Markt, dessen Wachstum über die nächsten Jahre das kompensieren kann, was wir aktuell in China verlieren.“
Der ZVEI-Präsident versichert, man wolle China nicht aufgeben. Es gebe in der Elektronikbranche große Mittelständler, die gerade jetzt in der Volksrepublik investierten – weil sie davon ausgingen, aufgrund der geopolitischen Spannungen künftig alles, was sie in der Volksrepublik verkaufen wollten, auch dort herstellen zu müssen. Das bestätigt auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), der die größte deutsche Branche vertritt, die sich wie keine andere über Jahrzehnte hinweg fast ausschließlich auf den chinesischen Markt konzentriert hat. „Es gibt durchaus noch Neugründungen von Produktionen in China von deutschen und europäischen Unternehmen, die bislang noch nicht im Land investiert waren“, sagt Asien-Fachfrau Monika Hollacher der F.A.Z. Allerdings werde Indien als zweiter Standort für die deutschen Maschinenbauer immer wichtiger. Gegenüber Ländern wie Thailand, Malaysia und Vietnam, von denen nur das Letztere auf eine Einwohnerzahl von 100 Millionen Menschen kommt, erscheine Indien schon deswegen attraktiv, weil es groß genug sei, um eine schlagkräftige Produktion aufzubauen.
„Der Trend ist da“
Die Produktionsverlagerung von China nach Südostasien und Indien sei eine „Evolution, keine Revolution“, sagt Volker Treier der F.A.Z., Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). „Doch der Trend ist da.“ Besonders deutschen Firmeninhabern sei übel aufgestoßen, dass sie während der Pandemie wegen der ideologischen Null-Covid-Politik von Präsident Xi Jinping in China ihre Produktionsstätten nicht besuchen konnten: „In der Breite des deutschen Mittelstandes ist das Interesse an China in der Corona-Zeit verloren gegangen.“ Den oft gehörten Einwand, dass die Volksrepublik wegen ihrer Größe nicht zu ersetzen sei, lässt Treier nicht gelten: „In den ASEAN-Ländern leben heute 680 Millionen Menschen. Das ist bereits die Hälfte der chinesischen Bevölkerung. Da geht es beim Umsatz nicht nur um homöopathische Dosen.“
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Sich nur auf China zu konzentrieren und das restliche Asien kaum wahrzunehmen sei ein Fehler der deutschen Wirtschaft gewesen, kritisiert ZVEI-Präsident Kegel. Die massiven Absatzrückgänge in der Volksrepublik seien etwa für die deutschen Autohersteller „schmerzlich“. Viele hätten stark auf die Karte China gesetzt. „Die hohe Risikokonzentration hat man zur Wahrung der Geschäftschancen in Kauf genommen.“ Doch das Land werde wiederkommen, weil das Pekinger Regime gar nicht umhinkönne, dem Volk Wachstum zu bieten.
Allerdings könnten die Unternehmen die Wachstumsmärkte in der Asien-Pazifik-Region nur dann erschließen, wenn sie ihre heimische Wettbewerbsstärke erhalten könnten. „Diese erodiert aber gerade, weil die schwierigen Standortbedingungen in Deutschland unternehmerische Freiheiten ersticken“, ärgert sich Kegel. Besonders eine Regelung treibt ihn zur Weißglut. „Wir wollen, dass das deutsche Lieferkettengesetz auf Eis gelegt wird und die zusätzliche EU-Regulierung revidiert wird.“ Die Doppelregulierung diene der eigentlichen Sache nicht. Den Firmen drohe Böses, schwant es Kegel: Die vorgesehene zivilrechtliche Haftung könne „zur Geldbeschaffung“ missbraucht werden, sollten auswärtige NGOs deutsche Unternehmen „aus fadenscheinigen Gründen verklagen“.