Nobelpreisanwärterin | Aus Lust wird Poesie: Ersi Sotiropoulos droben dasjenige geheime Verlangen des Dichters Kavafis
Die griechische Autorin Ersi Sotiropoulos gilt als Anwärterin auf den Nobelpreis. Jetzt füllt sie eine Leerstelle im Leben des großen Dichters Konstantinos Kavafis. Ein Porträt des Künstlers als junger, schwuler Mann im Paris von 1897
Die Griechin Ersi Sotiropoulos begibt sich in ihrem Roman „Was bleibt von der Nacht“ ins fiebrige Paris
Collage: der Freitag; Hintergrundbild: Art Media/The Print Collector/Getty Images; Portrait: Sissy Morfi
Unvergängliche Poesie entsteht nur durch Begehren, Erinnerung und Beobachtung. Ein langer, oft schmerzhafter Weg. Im Jahr 1897 ist Konstantinos Kavafis noch weit entfernt davon, der kanonisierte Lyriker Alexandrias zu werden, der vielleicht wichtigste und einflussreichste Dichter griechischer Sprache der Neuzeit. Nur selten kommt er aus seiner Stadt heraus, und es sind nur drei Tage, die er mit seinem Bruder John in Paris verbringt, dieser nervösen, erregten Stadt. Sie steht gerade im Bann der Dreyfus-Affäre.
Der Justizskandal, bei dem der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu Unrecht verurteilt wurde, nährt in Frankreich die Tendenz, „sich in Fraktionen zu spalten“. Die Affäre spült antisemitische Ressentiments ebenso an die Oberfläche wie Fragen nach Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit – all das liegt in der Luft, als Kavafis durch die Straßen, die Cafés und Salons zieht.
Zwischen Dekadenz und Avantgarde
Paris ist für Kavafis zugleich ein Spiegel der eigenen Unruhe. Er stößt auf eine Gesellschaft, die zwischen Dekadenz und Avantgarde oszilliert, zwischen Symbolismus und den ersten tastenden Schritten der Moderne. Wie ein Baudelaire’scher Flaneur nimmt er Farben, Stimmen, Gerüche in sich auf, stets mit der Frage: Wie wird daraus Dichtung?
Das zumindest suggeriert die griechische Schriftstellerin Ersi Sotiropoulos – laut den Wettbüros eine potenzielle Anwärterin auf den Literaturnobelpreis 2025 – mit ihrem teils impressionistisch hingetupften und zugleich kraftvollen Roman Was bleibt von der Nacht?. Kavafis hat über seine Pariser Eindrücke geschwiegen, Sotiropoulos füllt diese biografische Leerstelle mit ihrem bereits 2015 auf Griechisch, dann ins Französische und Englische übersetzten Roman und erhebt den stürmischen Kurztrip in das Herz der Belle Époque zu einer literarischen Urszene: In der „Stadt des Lichts“ soll begonnen haben, was später als das unverwechselbare lakonisch-melancholische Werk des Dichters in die Literaturgeschichte eingehen wird.
Solch ambitionierte Romanbiografien können leicht in die Hose gehen. Nicht weil Sotiropoulos den Dichter mehrmals onanieren lässt – denn das ist sprachlich ziemlich elegant geraten, weil die allwissende Erzählerin nicht einfach den Akt beobachtet, vielmehr für die ihn begleitenden Gedanken die passenden Worte findet –, sondern weil solche fiktionalen Biografien oftmals dem direkten Vergleich zwischen porträtiertem Gegenstand und dem eigenen literarischen Vermögen nicht standhalten.
Kavafis war Kind wohlhabender Eltern
An dieser Stelle sollte man sich aber vielleicht kurz Kavafis’ Biografie zuwenden, da sie zumindest im deutschsprachigen Raum nicht so bis ins letzte Detail ausgeleuchtet ist wie etwa die Thomas Manns oder Oscar Wildes. Autoren, die in ihrem Werk ganz unterschiedlich mit ihrer Homosexualität umgingen.
Am 29. April 1863 kam Kavafis als Kind wohlhabender griechischer Eltern in Alexandria, damals ein Zentrum der geistigen griechischen Diaspora, auf die Welt. Dann zog er nach dem frühen Tod seines Vaters mit der Familie nach England und Konstantinopel. 1885 kehrte er endgültig in seine Geburtsstadt zurück, wo er lange Zeit im Ministerium für Wasserwirtschaft in einfacher Anstellung, später als Bürochef arbeitete.
Ein nahezu kafkaeskes (hier passt das inflationär gebrauchte Adjektiv) Angestelltenleben. Der Großteil seines Werkes entsteht von 1911 bis 1933. Er verbindet darin die griechische Volks- und Hochsprache, Dialektformen und Vulgarismen zu einem unvergleichlichen Idiom.
Die Gedichte tragen viel Prosa in sich, vielleicht ist dies einer der Gründe, dass sie sich recht gut übersetzen lassen. Der „Dichter des Alters“, wie sich der Hornbebrillte selbst titulierte, bekannte sich erst spät zu seiner Homosexualität und lebte zuletzt im heruntergekommenen Griechenviertel in Alexandria über einem Bordell. „Wo könnte ich besser leben? Unten sorgt sich das Freudenhaus um die Bedürfnisse des Fleisches. Und da ist die Kirche, die die Sünden vergibt. Und weiter unten liegt das Krankenhaus, wo wir sterben“, schrieb er.
Der Dichter begegnete Strichjungen
Des Nachts schlich er durch die Absteigen des „schlechten Viertels“ – und begegnete Strichjungen. In Paris träumt er noch von einem jungen geheimnisvollen Tänzer, eine flüchtige Begegnung, aber vielleicht war sie auch nur Imagination: „Kräftige Gesäßbacken. Graue Augen, grau wie das Meer nach dem Regen, wenn es von aschgrau bis indigoblau changiert.
Volle Lippen. Ein Mund, weinrot, wie zerbissen.“ Man merkt: Sotiropoulos tritt ihm psychologisch sehr nah. Dabei helfen ihr auch Figuren wie „Madame“. Sie verkörpert das Mondäne, der geschwätzige Intellektuelle Mardaras hingegen führt die Brüder in die Pariser Kreise ein und schwafelt die ganze Zeit von einer geheimnisumwitterten Lasterhöhle namens Arche: In ihrer beider Gegenwart wird Kavafis’ Unsicherheit sichtbar – das vermeintliche Urteil eines potenziellen Förderers, „schwach im Ausdruck – stümperhaft“, hält ihn zudem die ganze Zeit in Atem. Immer wieder überarbeitet er im Hotelzimmer Verse, verwirft Entwürfe, zweifelt an seinem Talent.
Sotiropoulos lässt ihn einmal Folgendes denken: „War nicht jeder Einzelne, und nicht nur der Dichter, dazu verdammt, am Boden verhaftet zu leben, während ihn in seinem Inneren nach mehr verlangte? Sehnte sich nicht jeder nach dem Unendlichen und suchte Zuflucht in der Religion, Trost im Alkohol, im Glücksspiel oder in einer Umarmung?“ Und was bleibt von diesen Tagen und Nächten im Jahr 1897? Diesmal wohl nur der Gedanke an einen „zarten Hoden“. Noch.
Was bleibt von der Nacht? Ersi Sotiropoulos Doris Wille (Übers.), Kanon 2025, 288 S., 25 €