Nigel Farage: Donald Trumps Erbe könnte ein Brite sein

Bald wird König Charles III. den Labour-Vorsitzenden Keir Starmer zum Premierminister Großbritanniens ernennen. Das steht fest – zu 99 Prozent, sagt sogar der für seine vorsichtigen und zurückhaltenden Analysen bekannte britische Umfrageforscher John Curtice. Dies geschieht weder aufgrund eines besonderen Charismas des Labour-Chefs noch wegen seiner fachlichen Kompetenz. Auch das programmatische Profil der Labour Party ist diesbezüglich eher nebensächlich. Labour und Starmer werden die Unterhauswahlen am 4. Juli einfach nur gewinnen, weil sie nicht die Konservativen sind.

Nun spielte das Motiv der Abwahl der Regierung bei Regierungswechseln in Großbritannien immer schon eine große Rolle. Das war so, als Margaret Thatcher 1979 die unbeliebte und von den Wirtschaftskrisen überforderte Labour Party ablöste. Und das war so, als Tony Blair 1997 seinen Erdrutschsieg auch von Skandalen und Skandälchen angeschlagenen und in sich völlig zerstrittenen Tories zu verdanken hatte. In beiden Fällen war die Abwahl jedoch auch mit einer Aufbruchsstimmung und der Hoffnung, wenn nicht gar der Aussicht auf grundlegende Veränderung verbunden.

Starmer und Labour stehen jedoch weder für eine Rückkehr in die EU noch für eine deutliche Abkehr von der Spar- oder der restriktiven Migrationspolitik der Tories. Anders als 1997 steht auch kein Verfassungsreformprojekt im Mittelpunkt, obwohl die Beziehungen zu den Regionalregierungen in Schottland, Wales und Nordirland sowie zum House of Lords, Oberhaus des britischen Parlaments, mehr als reformbedürftig sind.

Statt Inhalten verspricht Starmer lediglich, alles besser, ehrlicher und effizienter zu machen als die Tories. Es wird wohl nicht lange dauern, bis die britische Bevölkerung auch mit der neuen Regierung unzufrieden ist. Ein radikaler Wandel kündigt sich derzeit eher auf den Oppositionsbänken an. Selbst wenn man die Umfragen mit der gebotenen Vorsicht interpretiert, steht den Tories wohl ein Desaster bevor. „Sicherste“ Wahlkreise sind in Gefahr, darunter die von Finanzminister Jeremy Hunt und Premierminister Rishi Sunak. Die Parlamentsfraktion könnte halbiert werden.

Das alles ist Ergebnis der Selbstzerstörung einer Partei, die mit dem Brexit begann und mit der Rekordmarke dreier unterschiedlicher Premiers in einer einzigen Legislaturperiode Fortsetzung fand. Die Konservativen, einst bekannt für Realitätssinn und Pragmatismus, sind heute nicht viel mehr als ein zerstrittenes Häufchen opportunistischer Karrierepolitiker (Boris Johnson) und verbohrter Ideologinnen (Liz Truss).

Auftritt Nigel Farage

Der Brexit hat Großbritannien nicht zu alter Größe zurückgeführt. Im Gegenteil, die Bevölkerung ist demoralisiert von hohen Lebenshaltungskosten, sozialen Konflikten, Wohnungsnot, einem maroden Gesundheitssystem und einer hoffnungslos überalterten Infrastruktur. Und in dieser Situation betritt Nigel Farage, der langjährige rechtspopulistische Chef der United Kingdom Independence Party (UKIP) und der Brexit Party, wieder die Bühne.

Der bekennende Trump-Fan ist, wie sein Vorbild, Millionär, und einer aus dem Establishment, der sich selbst zum Sprachrohr der einfachen Leute ernannt hat. Reform UK heißt sein neuestes Projekt. Anders als 2019, als die Brexit Party die Konkurrenz mit den Konservativen in entsprechenden Wahlkreisen mied, ist es nun explizites Ziel Farages, die Tories bis zur nächsten Unterhauswahl als eine der beiden bestimmenden Kräfte des britischen Parteiensystems abzulösen. Das klingt vermessen, ist aber nicht aussichtslos.

Mit direkten Stimmengewinnen von den Konservativen, besonders in den nordenglischen Wahlkreisen, die die Tories erst 2019 von Labour übernommen hatten, könnte Reform UK eine entscheidende Rolle beim Wahlsieg Labours und beim Niedergang der Tories spielen. Unterhaussitze werden aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts dabei wohl nur wenige herausspringen. Bei den Gesamtstimmen sehen einige Umfragen Farage jedoch bereits an den Tories vorbeiziehen. Dies wäre ein politisches Erdbeben.

Die einst übermächtigen Konservativen in ihren Grundfesten erschüttert, Selbstzerfleischung der politischen Rechten – das klingt, als würde ein langgehegter Traum der britischen Linken in Erfüllung gehen. Doch die Konservativen werden nach dieser Wahl nicht nur zahlenmäßig dezimiert dastehen. Zu erwarten sind ein Machtvakuum und ein Führungsproblem. Viele ihrer kompetentesten Politiker werden ihre Mandate einbüßen, andere haben das Feld bereits freiwillig geräumt, sind ausgetreten oder gar zu Labour übergelaufen.

Wir reden vom möglichen Ende der Tories, wie wir sie kennen. Je nach Wahlergebnis könnte eine aufstrebende populistische Alternative auf der politischen Rechten dieser abgewirtschafteten Partei des Establishments nicht nur Konkurrenz machen, sondern sie in Form einer feindlichen Übernahme schlucken. Ein Blick über den Atlantik genügt, um zu erkennen, welche verheerenden Konsequenzen eine solche Entwicklung für Großbritanniens politische Kultur haben könnte.

Klaus Stolz ist Professor für British and American Social and Cultural Studies an der Technischen Universität Chemnitz