Nie dagewesener Aufruhr in der israelischen Gesellschaft

Unter chaotischen Bedingungen ist die Justizreform der neuen rechtskonservativen Koalition des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in die erste Lesung des Parlaments gegangen.

Wie heftig die Auseinandersetzung ist, lässt sich unter anderem in einem Video aus der Sitzung des Justizausschusses am Montagmorgen erkennen, das in den sozialen Netzwerken verbreitet wurde: Während vier Saalordner versuchen, einen Abgeordneten aus dem Sitzungssaal zu entfernen, springt ein anderer über den Tisch in die Mitte des Raums und schreit: „Schande! Schande!“

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Ein weiterer springt hinterher, dann eine dritte, die Hälfte des Saals skandiert mit, andere fangen an zu singen: „Ich habe kein anderes Land, auch wenn meine Erde brennt“, lautet der Text des Dichters Ehud Manor. Ordner reißen einen Abgeordneten zu Boden.

In Israels parlamentarischer Kultur sind turbulente Szenen keineswegs selten und nicht immer markieren sie wirklich gewichtige Differenzen. Doch an diesem Montag bildet das Getümmel im Innern der Knesset, das in Twitter-Videos dokumentiert ist, einen Aufruhr in der israelischen Gesellschaft ab, wie es ihn in der Geschichte des Landes kaum jemals sonst gab.

Während der Justizausschuss in der chaotischen Sitzung am Montagmorgen erste Teile der Justizreform mit Stimmen der Koalition verabschiedete, demonstrierten vor dem Parlamentsgebäude mehr als 70.000 Menschen gegen das Gesetzesvorhaben – eine beachtliche Zahl in einem Land mit nur neun Millionen Einwohnern. Die politischen Reaktionen, die die geplante Justizreform im In- und Ausland hervorruft, sind ebenfalls von außergewöhnlicher Schärfe.

Auch in Tel Aviv protestierten nach Medienberichten Zehntausende Israelis gegen den Regierungskurs
Quelle: REUTERS

Im israelischen Parlament protestierten Oppositionelle mit vollem Körpereinsatz
Quelle: AFP

Sowohl der Oberste Gerichtshof Israels als auch der Generalstaatsanwalt des Landes haben schwere Bedenken gegen die Justizreform geäußert. Staatspräsident Jizchak Herzog von der oppositionellen Arbeitspartei wandte sich am Vorabend der Beratungen in einer Fernsehansprache an die Israelis: „Wir befinden uns am Rande des verfassungsrechtlichen und sozialen Zusammenbruchs“, erklärte Herzog. Alle im Land hätten das Gefühl, „dass wir kurz vor einem Zusammenstoß stehen – sogar von einem gewalttätigen Zusammenstoß“.

Herzog warb für Gespräche zwischen Regierung und Opposition und einen Kompromiss für eine abgemilderte Fassung der Justizreform, für die er seinerseits einen Vorschlag einbrachte. Auch US-Präsident Joe Biden warb für einen Kompromiss. Er fügte hinzu, das Geniale der israelischen wie der amerikanischen Demokratie liege darin, dass beide „auf starken Institutionen, auf gegenseitiger Kontrolle und einer unabhängigen Justiz beruhen“.

Damit verwies Biden auf den Kern der Auseinandersetzung, denn im Zentrum des Konflikts um die Justizreform steht die Demokratie in Israel als solche.

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Nach der Vorlage der Regierung soll das Parlament künftig mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes außer Kraft setzen können. Zudem soll die Benennung der Obersten Richter künftig durch ein Gremium erfolgen, in dem die jeweilige Regierung und die hinter ihr stehenden Parlamentsfraktionen eine Mehrheit hätten.

Kritiker sehen als Ziel der Reform darum die effektive Entmachtung des Obersten Gerichts. Das wäre auch in anderen Demokratien eine ernst zu nehmende Gefahr. Im israelischen Staatsaufbau kommt dem Obersten Gericht aber in mehrfacher Hinsicht eine besonders tragende Rolle zu.

Rolle des Obersten Gerichtshofes

Wie einige andere Demokratien, etwa die britische, ist Israel ein Staat ohne ausdrücklich festgelegte Verfassung. Das liegt unter anderem daran, dass die Gründerväter und -mütter Israel als potenzielle Heimstatt aller in der Welt lebenden Jüdinnen und Juden sahen und keine Konstitution beschließen wollten, solange nur wenige von ihnen tatsächlich in Israel lebten.

Neben einigen später beschlossenen „Grundlagengesetzen“ ist die laufende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes die wichtigste Quelle des israelischen Verfassungsrechts sowie der Wahrung von Bürger- und Menschenrechten. Wenn dieser Gerichtshof wechselnden politischen Mehrheiten unterworfen ist, dann können nicht nur Grundrechte jederzeit gebeugt werden, auch die israelische Demokratie als solche kann von theoretisch jeder ausreichend mächtigen politischen Kraft grundlegend umgestaltet werden.

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Diese Möglichkeit löst auch deshalb besondere Sorge aus, weil Premier Netanjahu in einer Koalition mit zwei kleinen ultrareligiösen und immer wieder als rechtsextrem beschriebenen Parteien regiert, die eine rein jüdische und von religiösen Gesetzen bestimmte Gesellschaft anstreben.

In einer Umfrage des Fernsehsenders Channel 12 sprachen sich weniger als ein Viertel der Befragten für die Reform aus, eine annähernde Zweidrittelmehrheit dagegen für einen Stopp oder eine Verschiebung zugunsten einer Konsenslösung. Mehrere Tech- und Finanzfirmen haben erklärt, ihre Aktivitäten in Israel aus Sorge um die israelische Demokratie zu reduzieren.

Einen anderen brisanten Aspekt der Justizreform griff der ehemalige Verteidigungsminister Moshe Jaalon auf, einst ein Weggefährte Netanjahus und Mitglied von dessen Likud-Partei, als er vom Podium der Großdemonstration vor der Knesset sprach. Netanjahu treibe die Justizreform vor allem deshalb voran, weil er sich so vor gegen ihn laufenden Korruptionsprozessen schützen wolle und einem höchstrichterlichen Spruch, der ihn deshalb für nicht amtstauglich erklären könnte.

Denn Israels Oberstes Gericht erfüllt nicht nur die Funktion eines Verfassungsgerichtshofs, es ist auch die höchste Instanz in anderen Prozessen, etwa in Strafsachen. „Wenn Dir der Staat Israel und seine Bürger noch etwas wert sind“, so rief Jaalon Netanjahu vom Podium aus zu, „dann warte nicht auf die Entscheidung des Obersten Gerichts und hetze nicht gegen das Gericht.“ Netanjahu solle zurücktreten.

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Source: welt.de