„Nichts könnte beschämender sein“ – Ein „Pöbel“ demütigte die Supermacht England

Während der Kriege gegen Napoleon I. landete im Februar 1807 eine britische Armee in der spanischen La-Plata-Kolonie. Kreolen, Indigene und schwarze Sklaven verteidigten Buenos Aires. Der Straßenkampf wurde für die Invasoren zur Katastrophe.
Dass es dem überschaubaren Inselstaat England gelang, vom 18. Jahrhundert an ein Empire zu errichten, das auf seinem Höhepunkt rund ein Viertel der Erde umfasste, wird gern als eine einzige Abfolge von Siegen beschrieben. Das ist nicht zuletzt das Ergebnis einer rührenden Geschichtsschreibung, die den Erfolgen ungleich größere Aufmerksamkeit schenkte als den Schlappen. So wird gern übersehen, dass britische Truppen gegen die Zulu (1879 bei Isandhlwana), die Afghanen (1842 am Chaiber-Pass) oder die Mahdisten (1884 bei El Teb) vernichtende Niederlagen hinnehmen mussten.
Eine derart vergessene Episode ereignete sich auch im Jahr 1807. Damals standen sich Großbritannien und das Kaiserreich Napoleons I. gegenüber. Mit Frankreich war Spanien verbündet, das allerdings nur noch ein Schatten seiner einstigen Größe war. Zwar verfügte es immer noch über ein riesiges Kolonialreich in Lateinamerika und Asien. Aber politisch und militärisch war es nur ein Satellit Napoleons, mit dem es daher auch den Verlust seiner Flotte in der Seeschlacht von Trafalgar im Oktober 1805 teilte. Damit musste der Kaiser seinen Plan einer Invasion Englands aufgeben.
Nach dem Zusammenbruch Preußens und dem Rückzug Österreichs war England im Krieg gegen Frankreich auf sich allein gestellt. Da an einen direkten Angriff auf dem Kontinent wegen der Überlegenheit Napoleons nicht zu denken war, intensivierte London den Krieg in Übersee. 1806 wurde die Kapkolonie der Batavischen Republik, wie die von Napoleon dominierten Niederlande hießen, erobert. Von Südafrika aus setzte im folgenden Jahr ein Expeditionskorps nach Südamerika über, um das spanische Vizekönigreich La Plata zu erobern. Die Londoner „Times“ jubelte: „Buenos Aires ist ein Teil des britischen Empires“ und versicherte ihren Lesern, „dass die ganze Kolonie La Plata das gleiche Schicksal teilen wird“.
Das erwies sich jedoch als verfrüht. Dem französischen Offizier Jacques de Liniers, der seit den 1770er-Jahren in spanischen Diensten stand, gelang es, eine Miliz zu mobilisieren und die Briten zum Rückzug zu bewegen. Da sich die Kolonialbehörden Madrids als unfähig erwiesen hatten, die Invasion abzuwehren, setzten die Kreolen (in den Kolonien geborene Nachfahren von Europäern) die Berufung von Liniers als militärischem Befehlshaber durch. Ein Grund für die Untätigkeit des Gouverneurs war allerdings auch das nicht unbegründete Kalkül gewesen, der Aufbau einer eigenen Armee im Vizekönigreich La Plata werde dem Unabhängigkeitsstreben der lokalen Eliten neue Nahrung geben.
Am 3. Februar 1807 kehrten die Engländer unter Führung des Generals John Whitelocke zurück. Eine kampfstarke Armee von 8000 Mann landete bei Montevideo und nahm die Stadt ein. Die Kreolen erklärten daraufhin den spanischen Vizekönig für abgesetzt und trugen Liniers die Organisation der Verteidigung an. Während die Briten die La Plata-Kolonie besetzten und auf die Hauptstadt Buenos Aires marschierten, zog der Franzose sich ins Hinterland zurück und rief Siedler, Indigene und sogar Sklaven zum Widerstand auf.
In Buenos Aires lebten etwa 50.000 Einwohner. Nur 10.000 waren Weiße – Europäer und Kreolen. Die übrigen waren Indios, Mestizen und aus Afrika stammende Sklaven. Aus der ersten britischen Invasion hatte man in der Stadt seine Schlüsse gezogen und umfangreiche Vorräte angelegt. Nun scheute man sich nicht, auch Sklaven mit Gewehren und anderen Waffen aus Metall auszurüsten. Große Teile der städtischen Bevölkerung beteiligten sich am Ausheben von Schützengräben und Errichten von Barrikaden und weiteren Verteidigungsstellungen.
Ende Juni marschierte Whitelocke vor Buenos Aires auf. Seine Forderungen nach einer Übergabe wurden zurückgewiesen, wohl auch, weil Liniers inzwischen in Reichweite herangekommen war. Dessen Milizen hatten gegen die Briten in offener Feldschlacht keine Chance und wurden am 1. Juli zurückgeschlagen. Zwei Tage später befahl Whitelocke den Angriff auf die Stadt. Während seine Kolonnen durch die Straßen marschierten, überließ er seine Artillerie sich selbst.
Das war ein Fehler, denn Liniers gelang es, seine Truppen zu sammeln, dem Gegner nachzusetzen und die Geschütze zu erobern. Zugleich wurden die Engländer von Milizen, Soldaten der spanischen Garnison und Bewohnern in einen blutigen Straßenkampf verwickelt. „Von den Dächern aus trafen uns Granaten und mit brennendem Öl und kochendem Wasser gefüllte Tontöpfe“, berichtete ein Überlebender: „Mehrere Männer unserer Gruppe verbrannten.“
Nach zwei Tagen blutiger Kämpfe, in denen etwa die Hälfte der Briten getötet oder verwundet worden war, war es um die Moral von Whitelockes Leute geschehen, zumal das Stadtzentrum immer noch von den Verteidigern gehalten wurde. Die Bitte um einen eintägigen Waffenstillstand wies Liniers zurück, sondern drohte stattdessen mit dem Einsatz der eroberten Artillerie. Daraufhin kapitulierte Whitelocke. „Nichts könnte beschämender sein als unser Weg durch die Straßen inmitten des Pöbels, der uns besiegt hatte“, schrieb ein britischer Oberst. „Es waren sehr dunkelhäutige Leute, klein und verwachsen, mit Lumpen bekleidet, bewaffnet mit langen Musketen und einige mit einem Schwert. Es herrschte weder Ordnung noch Einheitlichkeit unter ihnen.“
Mehrere hundert Schwerverwundete sowie einige Dutzend Deserteure wurden zurückgelassen, der Rest der Briten zog sich umgehend zurück. Whitelocke wurde in London der Prozess gemacht, der ihn für „völlig untauglich und unwürdig“ erklärte, „Seiner Majestät in irgendeiner militärischen Funktion zu dienen“. Die Verluste der Kaufleute, die bereits erhebliche Summen in erhoffte neue Geschäftsfelder in Südamerika investiert hatten, waren erheblich.
Größer waren jedoch die Kosten für die Krone Spaniens. Obwohl der Aufstand gegen die französische Besetzung des Landes ab 1808 erhebliche Kräfte Napoleons band, dachten die Kreolen nicht daran, sich daran zu beteiligen. Ihr Selbstbewusstsein war vielmehr gestärkt worden, war doch „vor aller Welt der Nachweis erbracht, dass die oft als minderwertig angesehenen Menschen Amerikas besser imstande waren, der Supermacht England zu trotzen, als die Spanier selbst“, urteilt der Historiker Stefan Rinke. „Der permanente Zwang zur Selbstverteidigung und die damit verbundenen Kosten stellten die Treue zum (spanischen) König auf die Probe.“
Das bot den kolonialen Eliten ungekannte Entfaltungsmöglichkeiten. Da das Mutterland in den napoleonischen Kriegen gebunden war, bekam der Wunsch nach Selbstständigkeit einen entscheidenden Schub. In der Mai-Revolution 1810 erklärten die Vereinigten Provinzen des Río de la Plata ihre Unabhängigkeit, die ihnen 1816 endgültig zugestanden wurde.
Schon in seiner Geschichts-Promotion beschäftigte sich Berthold Seewald mit dem 19. Jahrhundert. Als WELT-Redakteur gehörte die außereuropäische Geschichte zu seinem Arbeitsgebiet.
Source: welt.de