Nicht leiden, sondern vielmehr verkatert
Die Interviewerin auf dem Podium des Semafor World Economic Forum in Washington hatte ihre Frage zum mauen Wirtschaftswachstum Deutschlands noch nicht ausformuliert, da hatte Finanzminister Christian Lindner schon die Antwort parat: Deutschland habe unter ungewöhnlichen Umständen außergewöhnliche Widerstandskraft bewiesen.
Der Politiker will aus naheliegenden Gründen vermeiden, dass sich das zuletzt wieder häufiger bemühte Bild Deutschlands als kranker Mann Europas während der Frühjahrstagung von Weltbank und IWF in Washington verfestigt. „Nicht krank, eher verkatert“, lautet die nicht ganz unkomplizierte Botschaft des Finanzministers, die er mit dem Hinweis ergänzt, dass wichtige Strukturreformen schon eingeleitet seien. Nach seiner Wahrnehmung werde vom Publikum das „enorme Turn-around-Potential“ erkannt, so der Finanzminister.
Die in dieser Woche vorgestellten IWF-Prognosezahlen helfen Lindner in seiner Werbung für den Standort allerdings nur begrenzt. Ein Wachstum von 0,2 Prozent in diesem Jahr und 1,2 Prozent im nächsten lässt sich schwer als Erfolg verkaufen, wenn Industrieländer wie die USA um 2,5 Prozent zulegen.
Warum Deutschland gerade so schlecht dasteht
Lindner versucht es trotzdem. Tatsächlich habe sich Deutschland wacker geschlagen, wenn man bedenke, dass es seine Energieversorgung komplett umstellen musste – weg vom russischen Pipelinegas. Inzwischen hätten die Gaspreise wieder Vorkrisenniveau erreicht, hebt der Minister hervor.
Die Deutschland-Spezialisten des IWF sind sogar geneigt, Lindner beizupflichten. Sie halten speziell das Gejammer über eine Deindustrialisierung Deutschlands für übertrieben. Energieintensive Branchen wie die Chemieindustrie, die Papierverarbeitung oder die Metallindustrie seien zwar tatsächlich geschrumpft, aber sie repräsentierten gerade einmal 4 Prozent der Volkswirtschaft, heißt es in einem IWF-Beitrag. Die Autoproduktion sei dagegen voriges Jahr um 12 Prozent gestiegen. Die deutschen Produzenten hätten überdies auf Energiekrise und Lieferprobleme reagiert, indem sie auf höhere Wertschöpfung setzten.
Warum steht Deutschland aktuell trotzdem so schlecht da? Weil laut IWF-Analyse die tendenziell sparsamen Deutschen ihr Geld zusammenhalten, die hohen Zinsen speziell den Hausbau bremsen und weil die globale Nachfrage sich Richtung Dienstleistungen verschiebt, was dem exportorientierten Industrieland stärker schadet als anderen Ländern. Doch die gute Nachricht ist laut IWF, dass dieser Gegenwind in absehbarer Zeit abflaut.
Das bedeutet aber keine Entwarnung. Im Gegenteil. Der Fonds findet, dass Deutschlands Probleme viel tiefer liegen und schwerer wiegen. Alt, unproduktiv, von Bürokratie gelähmt und deutlich zu geringe öffentliche Investitionen sind die Stichworte, die den Fonds schwer besorgen.
Die Deutschen sollen mehr arbeiten
In drei der vier angesprochenen Problemzonen liegt Lindner klar auf IWF-Linie, nur bei den beständig angemahnten öffentlichen Investitionen bleibt der Finanzminister naturgemäß zurückhaltender. Es fehlt wegen der in der Verfassung fixierten Schuldenbremse der rechtliche Spielraum dafür.
So macht Lindner die Alterung der Arbeitsbevölkerung und die damit verbundene Reduktion der Arbeitsleistung zu seinem Thema. Sie bietet genug Material für Schreckensszenarien. In keinem G7-Land schrumpfe binnen der nächsten fünf Jahre die Erwerbsbevölkerung so schnell wie im Deutschland, warnt der Währungsfonds: Geringere Wirtschaftsleistung pro Kopf, höhere Sozialversicherungsbeiträge und geringere Renten seien ohne Reform zwangsläufig.
Lindner stößt ins gleiche Horn. Deutschland bleibe unter seinen Möglichkeiten. Das Potentialwachstum des Landes liege im Moment bei 0,5 Prozent. Das heißt übersetzt, selbst wenn alle Betriebe an der Auslastungsgrenze arbeiteten, wachse die Volkswirtschaft nur um 0,5 Prozent. Noch vor zehn Jahren lag diese Größe laut Lindner bei 1,5 Prozent. Dieses Potentialwachstum binnen der nächsten zwei bis drei Jahre zu verdoppeln, sei das Ziel. Dafür brauche es keine öffentlichen Mittel. Vielmehr müssten die Deutschen mehr arbeiten. Die Arbeitsstundenzahl sei deutlich geringer als in Frankreich oder Italien, durch Arbeitszeitverkürzung und unfreiwillige Teilzeit. Das will Lindner ändern. Auch von steuerlicher Entlastung verspricht er sich Fortschritte.
Mittelfristig sieht Lindner auch wieder fiskalischen Spielraum für öffentliche Investitionen, deren Notwendigkeit er damit diskret einräumt. Auch ohne Änderung der in der Verfassung festgeschriebenen Schuldenbremse könnten rund 12 Milliarden Euro für Investitionen frei werden, so der Minister. Das Geld dürfe dann aber nicht für staatliche Konsumausgaben verbraten werden. Und bevor es dazu komme, gelte es mit Disziplin durchzuhalten.