Neuer Wehrdienst: „Wenn sie wollen, dass wir in den Krieg ziehen, sollen sie uns fragen und nicht zwingen“

Am vergangenen Montag war es einmal wieder so weit: Der Bundeskanzler stellte sich den Fragen der Bürger in der ARD-Arena. Auch ein junger Mann, um die 18 Jahre alt, hatte eine Frage an Friedrich Merz: „Warum soll ich für dieses Land kämpfen, wenn mir das Land nicht das Gefühl gibt, dass es für mich kämpft?“ Der Kulturpass sei gestrichen worden, Bahntickets würden immer teurer, und der Bundestag habe ein Rentengesetz verabschiedet, das es der jungen Generation schwerer mache, später einmal eine sichere Rente zu beziehen.

Merz schaute den jungen Mann ernst an, versuchte, die Frage zu beantworten, indem er sein Rentengesetz verteidigte. Dann schweifte der Kanzler ab: „Und dann haben wir ein Land, und das möchte ich mir doch erlauben zu sagen, in dem es sich lohnt zu leben.“ Der junge Mann solle ihm ein zweites Land auf der Welt nennen, in das er gerne ziehen würde. Viele würden ihm sicher nicht einfallen, so Merz. Deutschland sei eines der „schönsten Länder der Welt“, trotz aller Probleme eines, für das es sich zu kämpfen lohne. Auch seinen eigenen Dienst an der Waffe hob der Kanzler hervor.

Ein Video, in dem das Gespräch zu sehen ist, ging in den sozialen Medien viral. Allein auf Instagram sahen es mehr als zwölf Millionen Nutzer, Zehntausende hinterließen einen Kommentar. Einer von ihnen fasste das Gespräch ironisch zusammen: „Jugendlicher: Erklärt, dass er sich nicht ernst genommen fühlt. Merz: Erklärt, warum er ihn nicht ernst nimmt.“ Der Beitrag erhielt von 70.000 Nutzern einen Daumen nach oben. Eine andere Nutzerin schrieb: „Schöne Nicht-Antwort von Merz auf eine so gute Frage.“ Mehr als 15.000 Likes erhielt sie dafür. Man könnte noch Dutzende Kommentare auflisten, die ähnlich klingen und von Tausenden Zuspruch erhielten. Der Tenor: Merz nimmt die Sorgen junger Menschen nicht ernst.

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Auch der 13 Jahre alte Jan hatte die Sendung gesehen. Für ihn war die Antwort von Friedrich Merz ein „peinliches Ausweichen“. „Er sagt einfach: Woanders kann es schlechter sein. Das kann man immer sagen“, findet Jan, der die achte Klasse einer Schule im Rhein-Main-Gebiet besucht. Zusammen mit dem gleichaltrigen Paul und dem 16 Jahre alten Joni hat Jan am 5. Dezember am bundesweiten Schulstreik teilgenommen. Den Organisatoren zufolge gingen an jenem Freitag mehr als 50.000 Schüler und Mitdemonstranten auf die Straße, um gegen das Wehrdienstmodernisierungsgesetz zu demonstrieren.

Pappschild in Kanzlerform: Auch in München protestierten Schüler gegen den Wehrdienst
Pappschild in Kanzlerform: Auch in München protestierten Schüler gegen den WehrdienstPeter Kneffel

Das hatte eine rot-schwarze Mehrheit im Bundestag an jenem Tag beschlossen. Der neue Wehrdienst sieht vor, dass alle jungen Männer und Frauen, die 18 Jahre alt werden, ein Schreiben erhalten, in dem sie aufgefordert werden, einen Fragebogen zu beantworten. Die Frauen dürfen, die Männer müssen ihn ausfüllen. Wer es nicht tut, dem droht eine Geldstrafe. Interessenten werden dann zur Musterung eingeladen. Von Juli 2027 an werden alle jungen Männer gemustert, egal ob sie wollen oder nicht. Der Wehrdienst bleibt aber weiterhin freiwillig. Doch viele junge Menschen sehen in dem neuen Wehrdienstmodell eine Wehrpflicht, die durch die Hintertür kommt. Denn eine wichtige Frage bleibt bislang nicht eindeutig beantwortet: Was, wenn sich nicht genügend Freiwillige melden? Womöglich entscheidet dann ein „Zufallsverfahren“, wer Soldat werden muss.

„Ich habe genug Pflichtfächer, ich brauche keinen Pflichtdienst“

Vielleicht war in den Reden auf dem Schulstreik in Frankfurt vor ein paar Tagen wegen dieser Unsicherheit stets von einer „Wehrpflicht“ statt von einem „Wehrdienst“ die Rede. Hunderte Schüler waren dem Unterricht unerlaubt ferngeblieben, um in der Innenstadt gegen das neue Gesetz zu demonstrieren. Aus Lautsprechern bei der Kundgebung tönte der Song „Meine Söhne geb’ ich nicht“ des linken Deutschrappers Disarstar. „Die sitzen in Palästen, und dann reden sie von Wehrpflicht“, heißt es in einem Vers. Passend dazu skandierten viele Schüler „Reiche wollen Krieg, die Jugend will Zukunft“. Unter Pappschildern mit Sprüchen wie „Ich habe genug Pflichtfächer, ich brauche keinen Pflichtdienst“ mischten sich auch Banner der Gewerkschaft Verdi, der DKP und der Falken von der Sozialistischen Jugend Deutschlands. Doch nicht nur Plakate wurden hochgehalten und Parolen gebrüllt. Viele Schüler hielten Reden, auch Paul, Jan und Joni.

Die F.A.S. trifft die drei Jugendlichen, die eigentlich anders heißen, vor einigen Tagen auf dem Frankfurter Universitätscampus. Sie wollen erklären, warum sie die neuen Regeln beim Wehrdienst so entschieden ablehnen. Jan und Paul, die Brüder sind, haben von ihrer Großmutter viel über deren Flucht aus Ostpreußen erfahren. „Egal wohin sie kam, die Häuser waren zerbombt.“ Das habe ihn immer sehr berührt, sagt Paul.

Joni hingegen berichtet von seinem Großvater, der während seines Wehrdienstes bei der Bundeswehr schlecht behandelt worden sei. Auch er stellt sich die Frage, warum er für Deutschland im Verteidigungsfall kämpfen sollte. „Die Schulen sind kaputt, es gibt Kürzungen im sozialen Bereich, Digitalisierung fehlt“, zählt Joni auf. In seiner Schule gebe es ein Schild, das vor Asbest warne. Lehrer bekämen einen Burnout, weil sie überlastet seien. Auch Jan und Paul berichten von ihrer maroden Schule. Jan sagt, in seiner Schule gebe es nur eine Toilette, und die liege im Keller. Außerdem hätten sie sich beide teure iPads anschaffen müssen, mit denen sich am Ende kaum ein Lehrer ausgekannt habe. „Wenn du nicht genau das eine Modell kaufst, das die Schule vorschreibt, bist du raus“, sagt Paul.

Sie haben Angst, die Aufrüstung könnte Russland provozieren

Die vielerorts modernisierungsbedürftige Infrastruktur und die mangelhafte Digitalisierung frustrieren die drei Schüler. Aber gibt es nicht Werte, die es für junge Menschen zu verteidigen lohnt? „Ich soll eine Meinungsfreiheit verteidigen, die man mir gleichzeitig versucht wegzunehmen?“, fragt Joni. Jan behauptet, die jungen Menschen hätten im Zuge des Schulstreiks „massive Repressionen“ erlebt. Paul spricht davon, dass Lehrer die Schulordnung nach Belieben umgedeutet hätten, um zu verhindern, dass Flyer verteilt und Plakate aufgehängt würden. Dass sie ihren Streik am Ende trotzdem durchführen konnten, gerät angesichts der Empörung der drei Schüler in den Hintergrund.

Und was ist mit der Einschätzung der meisten Fachleute, nur eine starke Bundeswehr könne Putin davor abschrecken, die NATO in naher Zukunft anzugreifen? Für die drei Jungs ist das kein schlüssiges Argument. „Zahlenmäßig ist die NATO – schon die EU-Staaten allein – Russland maßlos überlegen“, ist sich Joni sicher. Damit sei doch genug Abschreckungspotential hergestellt. Außerdem fürchten die drei Streikredner, eine Aufrüstung könnte nicht abschrecken, sondern provozieren – und sie am Ende in einem Krieg sterben lassen, den sie nie wollten.

Und dann ist da noch ein Gefühl, das nicht nur die drei, sondern ihre ganze Generation bewegt: Sie fühlen sich von der Politik nicht gesehen. In seiner Rede hatte Paul gefordert: „Wenn sie wollen, dass wir für Deutschland in den Krieg ziehen, sollen sie uns fragen und nicht zwingen.“ Es sei „massiv undemokratisch“, wenn „alte, reiche Menschen“ im Bundestag über seine Generation entschieden, findet Jan. Von Bundeskanzler Friedrich Merz fühlt er sich nicht ernst genommen.

Schülerunion fordert allgemeine Dienstpflicht

Zwar gibt es bei Gesetzesvorhaben üblicherweise Konsultationen, Expertenanhörungen und Stellungnahmen aus betroffenen Gruppen. Doch die eigentliche Zielgruppe dieses Gesetzes durfte bei der Entstehung so gut wie nicht mitwirken. „In der exekutiven Ausarbeitung hatte die Bundesschülerkonferenz keinen Einfluss“, sagt Quentin Gärtner. Er war bis vor Kurzem Generalsekretär der wichtigsten Schülerorganisation Deutschlands. Am 17. Oktober habe er sich mit Boris Pistorius getroffen, um sich auszutauschen. Da hatte das Kabinett den Gesetzesentwurf aber längst beschlossen.

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Dass junge Menschen nicht einbezogen wurden, kritisiert auch die der CDU und CSU nahestehende Schülerunion. „Da sind wir uns sogar mit denen einig, die eine Wehrpflicht ablehnen“, sagt ihr Bundesvorsitzender Jakob Hornhues. Weder bei der Rente noch bei der Modernisierung des Wehrdienstes habe man die jungen Menschen ernst genommen, kritisiert er. Auch die Schülerunionisten Lina Straßer, Rasmus Moschek und Fritz Rinninger, alle 17 Jahre alt, hätten sich gewünscht, dass die Politik die Stimme der Jungen in der Debatte gehört hätte.

Der Bundeswehr stehen sie jedoch positiv gegenüber. Rasmus und Fritz wollen den Wehrdienst leisten, Lina denkt darüber nach, an einer Bundeswehruniversität Zahnmedizin zu studieren. Dass viele ihrer Mitschüler sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben und ihre Meinungen auf Streiks vertreten, findet Lina zwar gut, aber sie selbst lehnt die Proteste ab. Auch Fritz findet manches, was er bei den Streiks gehört hat, „fragwürdig“. Etwa, dass man zur Bundeswehr gehe, um dort „töten zu lernen“. Jakob Hornhues war ebenfalls erschrocken darüber, dass die Bundeswehr bei den Streiks als „tötende Kampftruppe“ statt als „moderne Parlamentsarmee“ dargestellt worden sei.

Tatsächlich konnte man auch während des Frankfurter Schulstreiks in einer Rede hören, die NATO habe zusammen mit der Bundeswehr Afghanistan „in Schutt und Asche gelegt“ und „Zehntausende Zivilisten ermordet“. Hornhues beobachtet, dass viele fachliche Argumente von den Schülern nicht wahrgenommen würden. Stattdessen übernähmen sie teils „russische Narrative“. Deswegen fordert die Schülerunion auch eine Reform des Politikunterrichts. Die Schüler sollen anhand aktueller Konflikte wie in der Ukraine oder im Nahen Osten mehr über Geopolitik und damit einhergehende Gefahren für die freiheitliche Ordnung lernen. Auch um mehr Transparenz und Verständnis für die Aufgaben der Bundeswehr zu schaffen, plädiert die Schülerunion für mehr Schulbesuche von Jugendoffizieren.

Es sind zwei Kernpunkte ihrer „Leipziger Erklärung“. Das Positionspapier sei eine direkte Reaktion auf das Wehrdienstmodernisierungsgesetz gewesen, sagt Hornhues. Denn neben den zwei genannten Punkten fordert die Schülerunion darin nicht nur ein Mitspracherecht für ihre Generation. Sie geht noch über einen freiwilligen Wehrdienst hinaus und will eine allgemeine Dienstpflicht, in der die Jungen zwischen Zivil- und Wehrdienst wählen können. Hornhues ist sich sicher, dass dann genügend Freiwillige zur Bundeswehr gehen würden. Beim freiwilligen Wehrdienst, fürchtet er, könnte das nicht der Fall sein.

Sollte die Bundeswehr über das Freiwilligenmodell nicht schnell und stark genug anwachsen, müsste der Bundestag über eine sogenannte Bedarfswehrpflicht entscheiden. Womöglich steht dann auch wieder das Losverfahren als Ultima Ratio zur Debatte, vor dem sich viele junge Menschen fürchten. „Dieses Losverfahren wirkt wie ein halb garer Kompromiss“, sagt Rasmus. Er ist sich sicher, dass die umstrittene Idee nicht zustande gekommen wäre, hätte man seine Generation stärker miteinbezogen.

„Wenn viele verweigern, funktioniert das System nicht“

Auch der Soziologe Jannes Jacobsen findet es bemerkenswert, dass junge Menschen bei der Gesetzgebung nicht konsultiert wurden. Der Dienst an der Waffe sei „ethisch völlig anders aufgeladen“ als etwa das Rentengesetz. Jacobsen forscht am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim). In einer repräsentativen Studie haben er und seine Kollegen untersucht, wie die Deutschen zum Wehrdienst stehen. Demnach befürworten nur 30 Prozent der Befragten zwischen 18 und 28 Jahren die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Bei den über Neunundsechzigjährigen sind es 77 Prozent. Und nur 14 Prozent der jungen Befragten würden den Wehrdienst selbst antreten. „Bei den Jüngeren dominiert sicherlich die Angst vor persönlicher Betroffenheit“, sagt Jacobsen.

Inwiefern das Gefühl, nicht mitentscheiden zu dürfen, eine Rolle spielt, wurde in der Studie nicht gefragt. Jacobsen glaubt aber, dass es für viele junge Menschen ein „zentrales Thema“ ist. Den Forscher verwundert es deshalb nicht, dass viele junge Wähler bei der Bundestagswahl der Linken ihre Stimme gegeben haben. „Sie ist die einzige Partei, die den Wehrdienst dezidiert ablehnt.“ Auch andere sozialpolitische Themen, die junge Menschen beträfen, wie knapper Wohnraum, seien Schwerpunkt des Wahlkampfs der Linken gewesen.

Auch Joni, Jan und Paul wollen ihre Wahlentscheidung nach der Haltung der Parteien zur Wehrpflicht ausrichten. Vielleicht werden sie verweigern müssen, um dem Wehrdienst zu entkommen – etwa mit der Hilfe der Deutschen Friedensgesellschaft, die beim Verfassen einer schriftlichen Verweigerung berät. Deren politischer Geschäftsführer Michael Schulze von Glaßer sieht darin einen wichtigen Unterschied zur Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“, als die Jungen auch schon aufbegehrten. Damals hätten diese keinen politischen Hebel gehabt, ihre Proteste seien nicht berücksichtigt worden. Das sei jetzt anders: „Wenn viele verweigern, funktioniert das Wehrdienstsystem nicht.“

Source: faz.net