Neue EU-Initative: Kultur gehört in den Mittelpunkt europäischer Politik
Kultur kann viel. Forschung zeigt etwa, dass Menschen, wenn sie mit Kultur in Kontakt kommen, demokratische Freiheiten verstärkt schätzen und Unterschiede ihrer Mitmenschen eher tolerieren. Und wo immer eine vielfältige Kulturlandschaft aufblüht, wird Populismus und Extremismus der Nährboden entzogen. Denn Europas Künstler und Kulturschaffende sind die stärkste Stimme der Demokratie. Sie müssen wir weiter stärken. Deshalb habe ich diese Woche den Kulturkompass für Europa vorgestellt, der eine feste Überzeugung bekräftigt: Kultur ist Europas erste Verteidigungslinie.
Aus ganz Europa erreichen uns immer wieder besorgniserregende Berichte: von unzulässigen Eingriffen in die Unabhängigkeit von Kultureinrichtungen über die Einsetzung sogenannter Sittengesetze bis hin zu Zensur oder Selbstzensur, von Einschüchterungen von Künstlern bis hin zu Konzertausladungen von ganzen Orchestern aus politischen Gründen.
Dialog mit Akteuren aus dem Kulturbereich
Diese Vorfälle sind zu verurteilen, und sie sind ein klarer Handlungsaufruf zugleich. Aus diesem Grund wird die Europäische Kommission künftig, als wesentlichen Bestandteil des Kulturkompasses für Europa, in regelmäßigen Abständen einen Bericht über den Stand der Kultur in der EU veröffentlichen. Dieser Bericht wird Einblicke in die europäische Kulturlandschaft geben und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Kunstfreiheit legen.

Wir werden außerdem einen strukturierten Dialog mit Europas Akteuren aus dem Kultur- und Kreativbereich einrichten. Hier wird der Bericht über den Stand der Kultur vorbereitet, und es werden die Fortschritte bei der Umsetzung der wichtigsten Leitlinien des Kulturkompasses erörtert werden. Um ein evidenzbasiertes Lagebild der europäischen Kulturlandschaft zu zeichnen, werden wir einen EU-Kulturdatenhub einrichten. Dieser wird Trends beobachten, Statistiken aus Europas Kultursektoren zusammenführen und bewährte Verfahren bündeln. Denn wir wissen: Nur was gemessen wird, wird auch verbessert.
Robert Schuman, zweimaliger französischer Premierminister und einer der Gründungsväter unserer Europäischen Union, schrieb schon vor Jahrzehnten in seinem großen Werk „Pour l’Europe“: „Europa sollte, bevor es zu einem Militärbündnis oder einer Wirtschaftseinheit wird, eine Kulturgemeinschaft im höchsten Sinne des Wortes sein.“ Im Jahr 2025, 75 Jahre nach der Schuman-Erklärung, die Europas Geschichte und Entwicklung bis hin zur Europäischen Union in Gang setzte und prägte, bin ich mehr denn je überzeugt: Es ist höchste Zeit, Schumans Vision in die Tat umzusetzen. Kulturpolitik gehört in den Mittelpunkt europäischer Politik!
Was Europa menschlich macht
Der Kulturkompass für Europa beruht daher auf einer klaren Vision: „Europa für die Kultur und Kultur für Europa“. Als Kompass zeigt er vier Richtungen auf, die den Weg für Europas Kultursektor in die Zukunft ebnen sollen. Die erste Richtung deutet gen europäische Werte, Rechte und Freiheiten mit dem Bericht über den Stand der Kultur in der EU als ein Meilenstein. Sodann zeigt die Kompassnadel auf die soziale Dimension der Kulturpolitik. Die dritte Richtung zeigt Wege auf, wie das kulturelle Erbe gestärkt und der europäische Kultursektor wettbewerbsfähiger, widerstandsfähiger und kohäsiver gestaltet werden können. Die vierte Richtung schickt Künstler und Kulturschaffende auf die Reise; sie befasst sich mit der Förderung internationaler Kulturbeziehungen. Denn Kultur hat nicht nur die Kraft, Menschen miteinander zu verbinden, sondern baut auch Brücken zwischen Ländern und Kontinenten.
Der Kulturkompass zeigt auf, was Europa menschlich macht. Vom Schauspieler bis zum Architekten, vom Musiker bis zum Museumskurator, vom Bibliothekar bis zum Buchverleger – Menschen schaffen Kultur. Ohne sie gibt es keine Kunst, keine Kultur. Sie sind das Rückgrat des europäischen Kultursektors, und sie sind es, die einen Mehrwert von rund 199 Milliarden Euro für unsere europäischen Volkswirtschaften schaffen. Fast acht Millionen Menschen arbeiten im Kulturbereich. Das macht etwa vier Prozent der Gesamtbeschäftigten in der EU aus und entspricht fast der Zahl der Vollzeitbeschäftigten in Europas Landwirtschaft.
Dennoch steht der Kultursektor vor Herausforderungen: Fast die Hälfte der Kulturschaffenden gibt an, unter schlechten Arbeitsbedingungen zu leiden. Und mehr als zwei Drittel der kürzlich befragten Künstler und Kulturschaffenden berichteten, dass sie mehr als einen Job ausüben müssen, um über die Runden zu kommen.
Das muss sich ändern. Deshalb schlage ich eine EU-Künstlercharta vor. Sie wird grundlegende soziale Prinzipien und Leitlinien entwickeln und Verpflichtungen für faire Arbeitsbedingungen umreißen, insbesondere bei den Empfängern von EU-Kulturförderung. Denn Applaus allein zahlt keine Miete. Und diejenigen, die zum kulturellen Reichtum Europas beitragen, dürfen nicht in wirtschaftliche Armut gedrängt werden.
Es sind schließlich die Künstler und Kulturschaffenden in ganz Europa, die ein Gefühl des europäischen Zusammenhalts schaffen und europäische Identität stiften. Das sagen neun von zehn Bürgern, die dieses Jahr europaweit befragt wurden. Auch deshalb ist für mich klar: Gewinnen Europas Künstler und Kulturschaffende, gewinnt die Kultur, gewinnt ganz Europa.
Glenn Micallef ist Europäischer Kommissar für Generationengerechtigkeit, Jugend, Kultur und Sport.
Source: faz.net