Netflix-Serie „Atemlos“: Streik im „Emergency Room“

Was soll das Operationsteam im Krankenhaus Joaquín Sorolla in Valencia tun, als der selbstorganisierte betriebliche Streik um Mitternacht losgeht? Weiteroperieren oder einfach alles liegen lassen? Alle Augen richten sich auf den Chef-Onkologen Néstor Moa (Borja Luna), der den Streik anführt. Auf dem Operationstisch liegt überdies Patricia Segura (Najwa Nimri), die Präsidentin der Generalitat von Valencia (vergleichbar einer Ministerpräsidentin), gegen deren Privatisierungspläne sich der Streik richtet. Die spanische Netflix-Serie Atemlos bereichert das seit Jahrzehnten boomende Genre der Krankenhaus-Dramen um einen Achtteiler, der unmögliche Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen, die Sparpolitik konservativer Parteien, Privatisierung der Gesundheitsversorgung und einen Krankenhaus-Streik in Szene setzt.

Im öffentlichen Krankenhaus Joaquín Sorolla wird ohne Notversorgung gestreikt, da der Arbeitskampf sonst eh keinen Sinn habe, wie sich aufgebrachte Krankenschwestern, Ärzte und Pflegepersonal bei der Vollversammlung einig sind. Andere Krankenhäuser folgen. Als dann auch noch wegen eines Brandes im nahe gelegenen Gefängnis zahlreiche Verletzte angeliefert werden, ist das Chaos perfekt.

Atemlos ist die erste aufwendig produzierte spanische Krankenhaus-Serie, und sie thematisiert die Arbeitskämpfe im dortigen Gesundheitswesen, von denen es in den vergangenen Jahren viele gab. Die breite Protestwelle der 15M-Bewegung (hierzulande medial als „Die Empörten“ oder „Indignados“ durch die Presse gereicht) brachte infolge der Finanz- und Immobilienkrise 2008/2009 in Spanien im Gesundheitswesen und im Bildungssektor unzählige Menschen auf die Straßen und führte zu vielen Streiks. Betitelt wurden diese Proteste als „Marea blanca“ (Gesundheit) und „Marea verde“ (Bildung). Die „Marea blanca“, bis heute immer wieder aufflammende Proteste im Gesundheitswesen, bezeichnete ein Aktivist pointiert als die „ältere Tochter“ der 15M-Bewegung. Das ging insgesamt mit einem Linksruck im Spanien der 2010er Jahre einher und führte unter anderem zum Erfolg der Partei Podemos. Zu tun hatte das mit von der Troika verordneten Kürzungsvorgaben im Sozialbereich, wie sie auch in Griechenland implementiert wurden. Nun sind die Ausläufer der „Marea blanca“ sogar bei Netflix angekommen.

Dabei schraubt Carlos Montero, der für Netflix auch schon die Serie Elite macht, kräftig an der Eskalationsschraube. Der junge, hoffnungslos überforderte Assistenzarzt Rodrigo Donoso (Víctor Sáinz) muss wegen Personalmangels eine Routineoperation alleine durchführen, bei der die zehnjährige Patientin stirbt. Der verzweifelte junge Assistenzarzt, nebenher ein kleiner Social-Media-Star, weiß sich nicht mehr zu helfen und springt vom Dach des Krankenhauses, was er über einen Social-Media-Kanal live ins Netz überträgt. Rodrigos Suizid führt zu einem massiven Aufschrei in der Belegschaft, die nicht mehr bereit ist, so weiterzumachen. In einer Vollversammlung wird ein unbefristeter Streik ohne Notfallversorgung beschlossen. Ein Novum, über das auch in der Belegschaft heftig gestritten wird. Zwischen allen Stühlen sitzt Rodrigos ältere Schwester Jésica Donoso (Blanca Suárez), ebenfalls Ärztin, die mit dem Krankenhausdirektor liiert ist und nebenbei eine Affäre mit dem jungen Assistenzarzt Biel de Felipe (Manu Ríos) hat.

Das Drama spitzt sich noch zu, als bei der konservativen Politikerin Patricia Segura nach einem Unfall in der Notaufnahme ein Tumor festgestellt wird und sie, wie eingangs erzählt, Patientin im Joaquín Sorolla wird, dem sie eigentlich eine drastische Privatisierungskur verordnet hat.

Atemlos funktioniert im Grunde wie jede andere Krankenhaus-Serie. Wie in einem Prisma fungieren Notaufnahme und Krankenhausbetrieb als zentraler Nukleus für eine Vielzahl kleiner, ineinandergreifender Geschichten, die Klinikbeschäftigten und Patienten nachspüren. Neu ist, die Misere im Gesundheitswesen, die es natürlich fast überall gibt, und Arbeitskämpfe, die in Spanien weniger reguliert und keinem so strikten tarifpartnerschaftlichen Korsett unterworfen sind wie hierzulande, als narrativen Rahmen für eine Krankenhaus-Serie zu verwenden. Das überzeugt nicht immer, da derartige Arbeitskämpfe in der Realität stets komplexer sind, als sich das im Serien-Drama abbilden lässt, es nimmt aber im Lauf der acht Episoden Fahrt auf.

Atemlos, das mit in Spanien bekannten Schauspielstars und einer Menge queerer Charaktere aufwartet, kommt hin und wieder auch wie eine Telenovela rüber mit konfliktreichen Affären zwischen Notfall-Schockraum und Arztzimmer. Es geht aber auch um das junge WG-Leben des Krankenhauspersonals, Karriereträume sowie dazugehörige Enttäuschungen, Drogenexzesse, Vergewaltigung, familiäre Konflikte und einen stundenlangen Dauerstarkregen inklusive dramatischem Stromausfall und Verweis auf den Klimawandel. Wobei die Ärzte des Joaquín Sorolla zur Entspannung auf dem Parkplatz auch mal genüsslich einen Joint durchziehen. Insgesamt wird in dieser Serie aber viel gestorben, was die Missstände im spanischen Gesundheitswesen noch einmal drastisch in Szene setzt. Das Ganze endet wie üblich mit einem Cliffhanger, da die Vielzahl privater Dramen und der politische Kampf gegen den Ausverkauf des Gesundheitswesens problemlos fortgeschrieben werden kann.

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