Natalia Gavrilița: „Moldau ist eine Art Testlabor für Russland“

Am vergangenen Sonntag gewann die amtierende Präsidentin Maia Sandu nur knapp die Präsidentschaftswahl in Moldau. Ebenso knapp war auch die Mehrheit für das gleichzeitig stattfindende Referendum zum EU-Beitritt: 50,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten für den Vorschlag, 49,6 Prozent dagegen. Natalia Gavrilița war von 2019 bis 2021 moldauische Finanzministerin, von August 2021 bis Februar 2023 Ministerpräsidentin. Sie gilt, genauso wie Sandu, als prowestlich und proeuropäisch.

ZEIT ONLINE: Frau Gavrilița, wie erleben Sie die Stimmung in Moldau nach der Wahl?

Natalia Gavrilița: Es herrscht ein Gefühl der Erleichterung, dass das Referendum positiv ausgefallen ist – auch, wenn es sehr knapp war. Die Wahlbeteiligung war sehr hoch, die Mehrheit hat sich für eine Annäherung an die Europäische Union ausgesprochen. Gleichzeitig wird das Ausmaß der illegalen Einmischung durch Russland in die Wahlen immer deutlicher. Letztlich haben Propaganda und Desinformation zwar nicht ihr Ziel erreicht, aber wir müssen uns ernsthaft fragen, warum diese Einmischung so effektiv war.

ZEIT ONLINE: Was denken Sie?

Gavrilița: Die Menschen in unserer Region sind verunsichert, wir haben wirtschaftlich schwierige Jahre hinter uns. Das macht die Menschen empfänglicher für Narrative, wie zum Beispiel, dass wir Russland nicht provozieren sollten. Sie befürchten, wenn wir uns zu schnell in Richtung Westen orientieren, wird das Chaos bringen. 

ZEIT ONLINE: Präsidentin Sandu sprach von 300.000 Stimmen, die Russland gekauft haben soll. Wie groß ist die Herausforderung für Moldau, wenn es um russische Einflussnahme geht? 

Gavrilița: Vor den Wahlen haben zahlreiche Investigativjournalisten das Netzwerk von Ilan Șor aufgedeckt. Er war am Bankenbetrug von 2014 beteiligt, als zwölf Prozent des BIP – gut eine Milliarde Euro – von staatlichen Banken gestohlen wurden. Șor nutzt heute, unterstützt von Russland, dieses Geld, um die Bevölkerung in Moldau zu beeinflussen. Șors Team sammelt Informationen über die finanziell schwächsten Bewohner, kontaktiert sie auf Telegram und wirbt sie dort für Wahlen an. Der britische Sender BBC hat vor Kurzem ein Video veröffentlicht, in dem man eine Frau in einem Wahllokal sieht. Sie will wissen, an wen sie sich wenden kann, um das ihr versprochene Geld abzuholen. Wir wissen also sowohl von internen Untersuchungen als auch von internationalen Medien, dass solche illegalen Stimmkäufe stattfinden.

ZEIT ONLINE: Gibt es noch andere Wege, wie Russland Einfluss nimmt?

Gavrilița: Russland wiederholt die übliche konservative, antiwestliche Rhetorik und warnt etwa vor „Gayropa“. Kürzlich sagte Maria Sacharowa, die Sprecherin im russischen Außenministerium, in einem Interview, dass die Annäherung an die EU Geschlechtsumwandlungen bei Kindern und den Verlust klassischer Vater-Mutter-Rollen bedeute. Da wird gezielt mit den Ängsten konservativer Wähler gespielt. In den Nachrichten und auf Telegram werden Halbwahrheiten und Lügen verbreitet. Zum Beispiel wird hinterfragt, wo die EU-Hilfen tatsächlich landen. Es ist leichter, Misstrauen zu schüren, anstatt den Menschen zu erklären, dass es eben ein bisschen dauert, bis Infrastrukturprojekte umgesetzt sind. Immer wieder wird davor gewarnt, sich mit Russland anzulegen, weil das im Krieg enden würde – siehe Ukraine. Darüber hinaus gibt es Cyberangriffe und Bombendrohungen.

ZEIT ONLINE: Am Sonntag haben Sie in Berlin Ihre Stimme abgegeben, gemeinsam mit anderen Menschen aus der moldauischen Diaspora. Knapp 77 Prozent der im Ausland lebenden Moldauer haben für einen EU-Beitritt gestimmt – so viele wie in keinem einzigen Wahlkreis. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Gavrilița: Moldau zählt zu den Ländern mit der höchsten Wahlbeteiligung von Menschen, die im Ausland leben. Dieses Mal lag sie in dieser Gruppe bei etwa 15 Prozent. Diese Menschen leben in Amerika, in der Türkei, in Russland – aber eben auch in der Europäischen Union. Sie sehen, wie die Gesellschaften sind, sie sehen Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand. Sie verstehen, dass ein EU-Beitritt eine Chance für Moldau wäre, aus der Pufferzone zwischen Russland und Europa rauszukommen. Die europäischen Moldauer romantisieren die EU nicht, sie verstehen, dass es sehr viel Arbeit bedeutet, Demokratie und Wohlstand zu erhalten.

ZEIT ONLINE: Die Bevölkerung in Moldau hingegen scheint tief gespalten – wenn man das knappe Wahlergebnis betrachtet. 

Gavrilița: Dem würde ich widersprechen. Die moldauische Gesellschaft ist im Allgemeinen eher proeuropäisch. Ich mache mir weniger Sorgen um eine gesellschaftliche Polarisierung als vielmehr um die Einmischung von außen. Es gibt viele Menschen, die einen EU-Beitritt befürworten, aber aus Angst vor Russland diesen Annäherungsprozess an Europa etwas langsamer angehen wollen.