Naher Osten: Wie welcher 7. Oktober die Welt verändert hat

Am 27. September, in den Morgenstunden von New York, führt ein Saaldiener den israelischen Premierminister an das Rednerpult. Benjamin Netanjahu adressiert die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Beinahe ein Jahr ist es da her, dass die Hamas ein Musikfestival und mehrere Kibbuze an der Grenze zum Gazastreifen überfallen hat. Am 7. Oktober 2023 töteten die Terroristen etwa 1.200 Menschen, Babys, Ältere, Frauen, Männer. Sie vergewaltigten und köpften, verbrannten Menschen bei lebendigem Leib und filmten sich dabei. Sie entführten 251 Menschen. Rund 100 sind immer noch in der Gewalt der Hamas, viele von ihnen sind sicherlich tot. Die Befreiten berichten von qualvollen Haftbedingungen, von Misshandlungen, von sexueller Gewalt, Folter, Erniedrigung.

Einige Angehörige von Geiseln der Hamas sind an diesem 27. September nach New York gereist, um den israelischen Premierminister sprechen zu hören. Sie können sehen, wie die Delegationen vieler anderer Länder während der Rede demonstrativ den Saal verlassen. Am 27. Oktober 2023, auch dieser Tag jährt sich bald, marschierte Israels Armee in Gaza ein. Der Gazastreifen – den Israel für Journalisten immer noch abriegelt – ist nach allem, was man weiß, ein Trümmerhaufen. Der Krieg hat das, was man einmal leichthin „Weltgemeinschaft“ nannte, noch tiefer gespalten.

Netanjahu ficht das nicht an. Vor den Vereinten Nationen hält er eine kämpferische und trotzige Rede. „Wir gewinnen!“, ruft er in den Saal.

Am Morgen des 27. September in New York klingt „Wir gewinnen“ beinahe anmaßend. In der Woche der UN-Generalversammlung, kurz vor dem Jahrestag des 7. Oktober, stellt sich die Lage so dar: Sicher, die Hamas ist geschwächt, und explodierende Pager haben im Libanon gerade erst rund 3.000 Kämpfer der Hisbollah verletzt und neun Menschen getötet. Aber Israel hat sich nur Zeit gekauft – zu einem hohen Preis: Die vor dem Krieg begonnene Entspannung mit den arabischen Nachbarn ist zunichte. Die rücksichtslose Kriegsführung hat viele Länder des Globalen Südens, viele Europäer und Amerikaner gegen Israel aufgebracht.

Der wichtigste Freund Israels – die USA – ist entfremdet und durch den Krieg innerlich aufgewühlt. Der Preis des israelischen Krieges gegen die Hamas ist auch die weitere Radikalisierung und Spaltung der eigenen Gesellschaft. Und zuletzt, und doch zuerst: Der Preis sind 41.000 tote Palästinenser und viele tote israelische Geiseln.

So hätten sie sich gelesen, die Bilanzen, noch am 27. September, als Israels Premier vor den Vereinten Nationen spricht. Doch dann, wenige Stunden nachdem Netanjahu wieder abgetreten ist vom Rednerpult, fliegen israelische Kampfflugzeuge einen Angriff auf die Dahieh, die südliche Vorstadt von Beirut im Libanon. Die Bomben zerstören einen Wohnblock. Unter den Trümmern begraben wird Hassan Nasrallah, Kopf der Hisbollah. Wenige Tage später rücken israelische Elitetruppen in den Süden des Libanon ein. Ein Vergeltungsschlag des Iran mit wird erfolgreich abgewehrt. Rund um den Jahrestag des 7. Oktober sucht Netanjahu das Endgame, will sämtliche Feinde Israels in der Region ein für alle Mal besiegen – und scheint, zumindest einstweilen – tatsächlich zu gewinnen. Der Iran, der sich auf dem Weg zur neuen Hegemonialmacht im Nahen Osten wähnte, ist blamiert, seiner Auslandsarmee im Libanon, der Hisbollah, entkleidet.

1. Die Logik der Gewalt

Seit Beginn dieses jüngsten Krieges im Nahen Osten ringen zwei Logiken miteinander: die Logik der Gewalt und die Logik der Politik. Die Logik der Eskalation und die Logik der Deeskalation. Benjamin Netanjahu setzt auf die Logik der Gewalt – und hat sich damit auch gegen starke Widerstände innerhalb seines Landes immer wieder durchgesetzt. Israels Verbündete, vor allem die Regierung von Joe Biden, mahnen zur Zurückhaltung. Neben ethischen und rechtlichen Gründen führen Israels Partner auch realpolitische Argumente an: Langfristig lasse sich Israels Sicherheit nur politisch sichern.

Der Verlauf des Krieges schien Biden lange recht zu geben – bis das Bild mit dem Tod Nasrallahs kippte.

Aber kann wahr sein, was nur eine Woche zuvor absurd und anmaßend schien: dass sich dieser Krieg mit Gewalt entscheiden lässt? Entsteht hier gerade eine neue Ordnung im Nahen Osten? Oder doch eine neue Unordnung?

Die Wahrheit ist: Wer immer glaubt, aus diesem Moment ableiten zu können, wie der Nahe Osten, wie die Welt wiederum ein Jahr später aussehen wird, am 7. Oktober 2025, bewegt sich im Feld der Astrologie. Das Charakteristische an diesem Moment ist nicht, dass sich eine Logik durchsetzt. Sondern die Kurzlebigkeit der Interpretationen. Symptomatisch für den Zustand der Welt insgesamt ist die Volatilität, die hergebrachte Glaubenssätze jederzeit begraben kann.

Dieser Moment, der Jahrestag des 7. Oktober, ist vor allem deshalb bezeichnend, weil er so unordentlich ist. Weil er zwar mit der Vergangenheit bricht, aber noch keine Zukunft enthält. Eine alte Ordnung zerfällt, ohne dass sich eine neue abzeichnen würde. Das gilt nicht nur für die Region. Der Krieg im Nahen Osten legt vielmehr eine globale Unordnung offen – und verstärkt sie.

Günstig scheint der Moment nur für Politiker vom Schlage Benjamin Netanjahus zu sein: die Hasardeure und Risikobereiten. Die Glücksritter und Skrupellosen.

2. Die Schrumpfmacht USA

Joe Biden, der Alterspräsident der alten Ordnung, hat es wohl kommen sehen. Am 18. Oktober 2023, elf Tage nach dem Angriff der Hamas und keine zwei Wochen vor dem israelischen Einmarsch in Gaza, besucht er Israel. Er trifft Netanjahu und sein Kriegskabinett und hält eine Rede in Tel Aviv. Die Rede ist eine Umarmung des Staates Israel und seiner jüdischen Bürger. Die Wärme seiner Worte ist heartfelt – sie ist echt. Biden versichert den Israelis, Amerika werde ihr Land, den Staat der Juden, schützen. Er spricht über seine eigene Verlusterfahrung, um jenen Mut zu machen, die Angehörige verloren haben, und über die große Verlusterfahrung seiner Nation, den 11. September 2001. Mit dieser Erinnerung verbindet er eine Warnung:

„Schock, Schmerz, Wut – eine alles verzehrende Wut. Ich verstehe das. Viele Amerikaner verstehen das. Aber ich möchte warnen. Lasst die Wut zu, aber lasst nicht zu, dass sie euch auffrisst. Nach dem 11. September waren wir wütend in den Vereinigten Staaten. Und während wir Gerechtigkeit suchten und fanden, haben wir Fehler gemacht.“

Es ist, nur elf Tage nach dem Zivilisationsbruch der Hamas, die erste von vielen amerikanischen Warnungen, Israel möge den Krieg mit Maß führen. Israel wird sie in den Wind schlagen. Die Amerikaner werden ihre Mahnungen wiederholen, mit jedem Mal drängender. Im März 2024 fordert Chuck Schumer, ein Vertrauter Bidens, sogar Neuwahlen in Israel: Die regierenden Demokraten entziehen Netanjahu öffentlich das Vertrauen. Im Mai 2024 – als Israel gegen den Willen der Amerikaner den Krieg auf Rafah im Süden von Gaza ausweitet, wohin sich Hunderttausende Zivilisten geflüchtet haben, verzögern die Amerikaner sogar die Lieferung besonders zerstörerischer Bomben. Insgesamt aber gehen die Lieferungen weiter. Die USA hätten die Möglichkeit, Israel effektiv zu bremsen. Über einen Langzeitvertrag fließen jedes Jahr mehrere Milliarden Dollar in Israels Verteidigungshaushalt, die USA haben den Iron Dome mitentwickelt. Doch je näher die US-Wahl am 5. November rückt, desto mehr fehlt es der Biden-Regierung am politischen Kapital für einen radikalen Politikwechsel – und Netanjahu weiß das.

Es ist eines der Charakteristika der brüchigen Weltordnung, die der Nahostkrieg spiegelt: die Lähmung der lange als Ordnungsmacht wahrgenommenen Vereinigten Staaten.

Den Niedergang der USA als Weltmacht zu beschwören, dafür ist es zu früh. Dass Israel ein Jahr nach dem Anschlag so stark scheint, ist Verdienst des israelischen Überlebenswillens. Doch auch der Militärmacht der USA. Kurz nach dem Angriff schickten die USA einen Flugzeugträger in die Region. 40.000 Soldaten sind weiterhin dort stationiert. Dass die Angriffe des Iran auf Israel im April und im September 2024 unwirksam blieben, ist auch amerikanischen, britischen und französischen Kampffliegern zu verdanken, ebenso wie Jordanien, wo diese Truppen stationiert sind. Doch tatsächlich fehlt den USA die Kraft, diese militärische Stärke als Einfluss in Israel geltend zu machen.

Nicht nur in den USA, auch in Europa verschmelzen Außen- und Innenpolitik zunehmend. Viele westliche Demokratien sind innerlich zerrissen, und der Nahostkrieg hat die Zerrissenheit verstärkt. Arabischstämmige Amerikaner und viele jüngere Linke geißelten die Unterstützung Israels als Beihilfe zum Genozid, Universitätsgebäude wurden besetzt, der Antisemitismus fand eine Bühne, die demokratische Partei wurde nur durch den Druck zusammengehalten, den Donald Trump erzeugte. Bidens Wahlkampfteam begann, um Swing-States zu fürchten, in denen viele Muslime leben – und das vor einer Wahl, die beide Seiten als existenziell für die amerikanische Demokratie halten – und die es auch ist.

Die USA erlebten, was viele westliche Länder erleben: Der außenpolitische Gestaltungsspielraum ergibt sich aus dem, was innenpolitisch möglich scheint, die Angst vor dem Populismus, der oft nationalistisch ist und das Prinzip „my country first“ propagiert, zwingt der Außenpolitik enge Grenzen auf.

Ohne wirksame Hebel keine wirksame Diplomatie – das mussten die USA ebenso wie Deutschland im vergangenen Jahr erleben. Sowohl der amerikanische Außenminister Antony Blinken als auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bereisten den Nahen Osten bis zur Erschöpfung, sie fuhren nach Israel, nach Ägypten, in die Golfstaaten, Baerbock auch ins Westjordanland. Die Ergebnisse seit der ersten Geiselbefreiung im Herbst 2023 sind wichtig, ändern aber nichts am großen Ganzen: etwas mehr Lebensmittellieferungen für Gaza, Evakuierungspläne für Zivilisten, ein Landepier für Hilfslieferungen, der dann wieder abgebaut werden musste. Der Krieg geht unterdessen weiter ohne Plan, ohne Gesprächsansätze für danach, so oft westliche Diplomaten auch „Zweistaatenlösung“ sagen mögen.

3. Westliche Doppelmoral

Am 2. Oktober, nach dem israelischen Einmarsch im Libanon und dem iranischen Gegenschlag, twittert der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, der „Übelkeit erregende Kreislauf der Eskalation“ müsse enden, er führe „die Menschen im Nahen Osten direkt über den Rand der Klippe“. Israel legt das als unzulässige Äquidistanz aus und belegt Guterres mit einer Einreisesperre.

Auch diese Episode wirft kurz vor dem Jahrestag ein Schlaglicht auf ein Charakteristikum des weltpolitischen Moments: Es gibt niemanden, der die diplomatischen Bemühungen von Antony Blinken sekundieren könnte. Die internationalen Organisationen sind nicht minder gelähmt.

Der Krieg im Nahen Osten beginnt, nur eineinhalb Jahre nachdem Wladimir Putin mit seinem Angriffskrieg in der Ukraine die globale Ordnung eingerissen hat. Der Sicherheitsrat, damals schon eher ein institutionelles Artefakt, fällt endgültig aus.

Der Krieg im Nahen Osten hat die Bedeutung der Vereinten Nationen weiter untergraben. Schon lange betrachtet Israel die UN als parteiisch, als Plattform, die vor allem Terrorleugner und Palästinenserunterstützer nutzen. Im Laufe des ersten Kriegsjahres verabschieden die Vereinten Nationen zwar mehrere Resolutionen, die – im kaum wahrnehmbaren Bereich – sogar die Wut des Westens über das Vorgehen der Regierung Netanjahus ausdrückten. Die USA bringen im Juni 2024 sogar eine eigene Resolution ein, die einen Waffenstillstand fordert. Bewirkt haben diese Entschließungen nichts. Man möchte fast sagen: natürlich nicht.

Die Resolutionen zeigen vielmehr eine Entwicklung, die schon der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine beschleunigt hat und die mit dem Nahostkrieg noch einmal an Tempo zulegt: die tiefe Spaltung zwischen den Ländern des Globalen Südens und dem Westen.

Immer mehr Länder des Globalen Südens machen sich die Systemkonkurrenz zwischen den USA und China zunutze, um die Weltmächte gegeneinander auszuspielen, sich mal hier, mal da Investitionen und politische Unterstützung zu sichern. Die realpolitischen Möglichkeiten, die sich aus dem Wettstreit der Supermächte ergeben, werden untermauert durch das moralische, postkoloniale Argument, das durch den Nahostkrieg an Zugkraft gewinnt.

Immer wieder müssen sich westliche Länder Heuchelei vorwerfen lassen. Dieser Vorwurf ist zwar teils ebenfalls Heuchelei. Viele der Länder, die ihn erheben, sind selbst alles andere als Horte von Freiheit, Menschenrechten und Prosperität, ein Fakt, der nicht verschwindet, indem man in die Rolle des Opfers imperialer westlicher Gewalt schlüpft.

Doch das Argument verfängt, weil es einen wahren Kern hat. Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine warben die USA und Europa in Brasilien, Südafrika, Indien und vielen anderen Ländern um Unterstützung für ihre Sanktionen, vor allem mit dem Argument, es gelte, die internationale Nachkriegsordnung, die Charta der Vereinten Nationen, die Schlussakte von Helsinki, überhaupt das Völkerrecht und vor allem die Unverletzbarkeit von Grenzen zu verteidigen. Abwehrend entgegengehalten wurden ihnen bis zum 7. Oktober vor allem die eigenen Völkerrechtsverletzungen der Vergangenheit, nicht zuletzt jene der Bush-Jahre nach dem 11. September 2001.

Seit dem Beginn der israelischen Bodenoffensive in Gaza und der immer offensichtlicheren Unfähigkeit des Westens, Israel in seiner Kriegsführung zu mäßigen – ja sogar die Unfähigkeit, die Verbrechen auch nur klar zu benennen –, ist das Argument der Aufrechterhaltung des Völkerrechts endgültig zerbröselt. Ihr wollt, dass wir Russland sanktionieren – aber ihr sanktioniert nicht (oder nur in ganz kleinem Maßstab), dass Israel Menschen vertreibt, von Nahrung abschneidet und zu unabdingbaren vermeintlichen Kollateralschäden seines Krieges gegen den Terror erklärt? Ihr geißelt, dass Russland das Budapester Memorandum und die Verträge von Minsk gebrochen hat, aber lasst zu, dass die Verträge von Oslo nur noch eine Farce sind, sich israelische Siedler im Schatten des Krieges von Gaza immer größere Teile des Westjordanlandes einverleiben? Warum feiert ihr den Haftbefehl, den der Internationale Strafgerichtshof gegen Putin erlassen hat – murmelt aber gleichzeitig Unverständliches in eure Bärte, wenn dasselbe Gericht einen Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu beantragt?

Hier schließt sich auch erneut der Kreis zur inneren Schwäche vieler westlicher Demokratien: Auf dem schmalen diskursiven Grat der legitimen Kritik an der israelischen Regierung zu balancieren, ohne in den Abgrund antisemitischen Israelhasses zu fallen, traut sich gerade in Deutschland kaum jemand, aber auch amerikanischen Politikern fällt das schwer. Zu gefährlich ist es, ins Fahrwasser derjenigen zu geraten, die „Decolonize Palestine“ rufen und die Auslöschung Israels meinen. Zu fragil scheint die innere Verfassung für eine mutige Debatte.

So verliert der Westen zwischen Ukrainekrieg und Nahostkrieg nicht nur seine besten Argumente. Sondern auch seine Soft Power, seine kulturelle Anziehungskraft und moralische Ordnungsmacht.

4. Neue Allianzen

Profiteure der Unordnung sind vor allem diejenigen Staaten, die den vermeintlichen amerikanisch-westlichen (Kultur-)Imperialismus schon immer zurückdrängen wollten.

Beide Kriege, der Krieg gegen die Ukraine und der Nahostkrieg, haben neue Partnerschaften entstehen lassen und gefestigt. Russland, Iran und China werden allesamt vom Westen sanktioniert: der Iran schon seit Jahrzehnten als Terrorstaat und wegen seines Atomprogramms, Russland wegen seines Angriffskrieges, China zunehmend von den USA wegen unfairer Handelspraktiken und um den eigenen technologisch-militärischen Vorsprung vor der aufstrebenden Macht zu erhalten. In der Folge sind die Länder enger zusammengerückt. Chinas Handel mit dem Iran ist eine wichtige Krücke für den Iran geworden, und vor allem Russland und Iran sind sich gegenseitig Händler des Todes. Fast jede Nacht greift Russland die Ukraine mit iranischen Drohnen an, ein bitterer Dank auch dafür, dass Russland mitgeholfen hat, die Westdrift im Landkartenschlüsselland Syrien zu zerschlagen.

Vor allem China sieht den Moment gekommen, die ganze Welt neu zu formatieren. In Äußerungen chinesischer Politiker und Diplomaten hallt die alte Ordnung zwar noch nach: China beschwört das Verbot des Einsatzes von Atomwaffen, die Unverletzbarkeit von Grenzen, sogar die Menschenrechte. Doch China definiert die alten Begriffe im eigenen Interesse um. In Gesprächen mit westlichen Diplomaten sprechen Vertreter Chinas von einer Welt, in der es nicht eine Ordnung gibt, sondern unterschiedliche „Zivilisationen“, deren jeweilige Auslegung von Ordnung es zu respektieren gelte. Warum nicht die Einhaltung der „Menschenrechte“ am Wohlstand einer Gesellschaft messen – statt an Freiheit oder Rechtsstaatlichkeit?

Der Westen mag die Begrifflichkeiten der alten Ordnung im Nahostkrieg geschwächt haben. China arbeitet systematisch daran, ihnen jede Eindeutigkeit zu nehmen.

Zwischen der neuen Achse und dem Westen pendeln unterdessen Staaten wie Indien, Brasilien und auch die Türkei, die zwar Interesse an der Zusammenarbeit mit dem Westen haben (auch Indien passt Chinas Aufstieg gar nicht), aber aus eigener Abhängigkeit oder Opportunismus mal politisch, mal praktisch Russland sekundieren. Das Jahr seit dem 7. Oktober ist auch das Jahr des Aufstiegs der Brics-Staaten – der Zusammenschluss von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Die Gruppe erweitert sich und träumt schon davon, das ganz große weltpolitische Rad zu drehen: etwa, die Macht des Dollars zu untergraben, neben dem Militär der zweitwichtigste Hebel der USA, um die Weltpolitik zu steuern.

5. Und Deutschland?

Auch Olaf Scholz reiste, wie Benjamin Netanjahu, im September zur Generalversammlung der Vereinten Nationen. Deutschland stellte dort gemeinsam mit Namibia einen Pakt für die Zukunft der Vereinten Nationen vor.

Man sei entschlossen, „das Vertrauen in unsere gemeinsamen Institutionen wiederherzustellen“, sagte Scholz in seiner Rede in New York. Das „Gerede von Spaltung, Polarisierung und Unsicherheit“ sei „nicht das Ende unserer Vereinten Nationen“. „Weil wir noch immer zusammenarbeiten. Weil wir einander noch immer vertrauen. Weil wir uns noch immer zu den Grundsätzen der UN-Charta bekennen.“

Angesichts der tatsächlichen Zustände weiß man nicht recht, ob man lachen oder weinen soll. So redlich alle Versuche sind, die alte Ordnung zu erhalten – so vergeblich scheinen sie doch angesichts des fortschreitenden Chaos.

Insofern ist Scholz‘ Rede charakteristisch für die deutsche Außenpolitik seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Das Land scheint stecken geblieben zwischen realpolitischem Aufbruch und der beinahe nostalgischen Beschwörung der alten Ordnung. Letztere scheint zunehmend als Entlastungsfantasie zu dienen, damit man sich nicht zweieinhalb Jahre nach der Zeitenwende noch mehr ändern muss.

Im Schockmoment des 24. Februar 2024 schaffte es Deutschland für einen Moment, sich von alten Glaubenssätzen zu lösen und die Welt so zu sehen, wie sie ist – brutal, unordentlich, in ständiger Bewegung. Die Folge war Realpolitik, gepaart mit dem Besinnen auf alte Allianzen, auf die Notwendigkeit des Militärischen, auf die Diversifizierung und Stärkung der eigenen Wirtschaft.

Der 7. Oktober führte hingegen zur Rückbesinnung auf die alten Lehren aus der eigenen Geschichte. Der Begriff der „Staatsräson“ wurde wieder beschworen, das „Nie wieder“ erneut reduziert auf die Verteidigung des Existenzrechts Israels – nicht auf die Durchsetzung des Völkerrechts allüberall. Was zunächst richtig war, hätte überdacht werden müssen, als klar wurde, wie Netanjahu diesen Krieg führt – und welche weltpolitischen Folgen diese Haltung hat.

Doch da steckte die Ampelkoalition schon zu tief im haushaltspolitischen Dauerstreit. Wahlen gingen verloren, eine neue Partei, das BSW, eroberte überdimensionierte Diskursmacht, weil man der eigenen nicht traute. Der Friedenskanzler sagt jetzt, man müsse schneller zu Verhandlungen in der Ukraine kommen, und versucht, den Bürgern die Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland als Fußnote einer Washingtonreise unterzujubeln – und wundert sich dann über die allgemeine Empörung. Zur israelischen Kriegsführung sagt er öffentlich schlicht: nichts.

Die Feststellung, dass die Außenpolitik eines Landes nur so stark ist wie das Land im Innern, sie gilt besonders für Deutschland. Die Ampel ist dabei, den kurzen Moment aufkeimender deutscher Strategiefähigkeit wieder zu zertrampeln. Angst essen Geopolitik auf.

Fazit

Heißt das alles, dass sich die Logik der Gewalt dauerhaft gegen die Logik der Politik durchsetzen wird? Die Logik der Eskalation gegen die Logik der Deeskalation? Bleibt es bei der fragilen Momentaufnahme rund um den Jahrestag, dass Israel gewinnt? Oder bleiben Israels Truppen, wie schon einmal, im Süden des Libanon stecken, entwickelt sich ein mal mehr, mal weniger heißer Dauerkrieg im Nahen Osten?

Ist der Westen am Ende doch zu unentschlossen, sind die Wechselwirkungen zwischen Ukraine- und Nahostkrieg zu übermächtig, die demokratischen Gesellschaften zu zerstritten, um Putins Überfall auf die Ukraine wirksam zu sanktionieren und einen diplomatischen Weg im Nahen Osten zu erzwingen? Kommt es bis zum nächsten 7. Oktober auch in Europa nur zu einem faulen Frieden, der Putins Überfall letztlich belohnt und die Ordnung weiter zersetzt?

Wie gesagt, jede Prognose ist Astrologie. Aber es sind Szenarien denkbar – auch positive.

Denn in der neuen Multipolarität der Welt stecken auch positive Kräfte. Viele der Länder, die der Westen vor allem als fence-sitter betrachtet, streben in ihrer Region nach Aufstieg, Machtzuwachs, Wohlstand. Krieg, das weiß Saudi-Arabien ebenso wie Indien, ist da nur hinderlich – man wird mit der Anpassung an den Klimawandel absehbar genug zu tun haben.

Gelingt es den USA und Europa, mit diesen Staaten Bündnisse zur Beilegung der Kriege zu formen – und seien sie ad hoc –, wäre viel gewonnen. In einem positiven Szenario gewinnt Kamala Harris die US-Wahl, erhöht wirksam den Druck auf Netanjahu und entwirft gemeinsam mit den Golfstaaten einen Plan für ein Gaza nach dem Krieg und eine weitere Eindämmung des Iran. Die großen europäischen Länder, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, besinnen sich auf ihre außenpolitischen Ambitionen und helfen, den Frieden abzusichern.

Die Koalition der Unterstützerstaaten der Ukraine wäre gestärkt und fände nach dem toten Moment der amerikanischen Wahl den Mut, die Ukraine stärker als bisher zu unterstützen und einen Verhandlungsfrieden mit wirksamen Sicherheitsgarantien abzusichern. Indien, Katar oder Saudi-Arabien – die neuen Kooperationsmöglichkeiten mit dem Westen fest im Blick – würden helfen, ein Abkommen zwischen Russland und der Ukraine zu verhandeln. Die Achse Russland-Iran wäre gezwungen, ein Mindestmaß der Regeln der alten Ordnung wieder anzuerkennen – zumindest eine Zeit lang.

Auch nur eine Entlastungsfantasie? Womöglich. Aber in den zahllosen losen Enden der Unordnung steckt auch eine Chance. Im Moment profitieren vor allem die Hasardeure und die Skrupellosen. Warum nicht auch einmal die Mutigen und Entschlossenen?