Nachruf auf Margit Carstensen: Eine Ikone aus der Familie Fassbinder ist gestorben – WELT

Danach befragt, wie er Margit Carstensen kennengelernt habe, die neben Hanna Schygulla und Ingrid Caven größte seiner Diven, gab Rainer Werner Fassbinder einmal zu Protokoll: „Ich habe Margit in Bremen kennengelernt, die die Frau des Oberspielleiters war und migränekrank im dritten Stock eines Hauses in der Nähe des Theaters wohnte und an sich nicht mehr spielen wollte. Und die, auf die Zusammenarbeit mit mir hin, wieder angefangen hat, spielen zu wollen.“

Die ganzen Siebzigerjahre hindurch sollte sie die dauerhafteste von Fassbinders Diven werden, und wohl auch die neurotischste. Sie war die fünfzehnfache Giftmörderin Geesche Gottfried in „Bremer Freiheit“, die verstoßene Ehefrau in „Nora Helmer“ und die masochistische Jungfer in „Satansbraten“. Vor allem aber war sie Petra von Kant, und als diese ist sie eine der zentralen Figuren des Fassbinder-Kults; der Fassbinder-Verehrer François Ozon hat sie in seinem Film „Peter von Kant“ erst kürzlich wiederbelebt.

Peter von Kant ist bei Ozon ein Regisseur von Fassbinderscher Berserkerhaftigkeit, und das ist nur folgerichtig, denn auch Petra war in „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ 1971 schon eine Fassbinder-Chiffre. Die lesbische Petra, so die vorherrschende Interpretation, war ein Alter Ego von Fassbinder selbst; Irm Hermann spielte als Marlene sich selbst, die hörige Dienerin ihres Herrn, und weitere Rollen deuteten auf Schlüsselfiguren wie Kurt Raab, Peer Raben und Günther Kaufmann.

MARTHA, from left: director Rainer Werner Fassbinder, Margit Carstensen, Karlheinz Bohm, on set, 1974
Rainer Werner Fassbinder, Margit Carstensen und Karlheinz Böhm (v.l.) am Set von „Martha“ (1974)
Quelle: picture alliance / Everett Collection

Die Handlung spielt ausschließlich in der luxuriösen Bremer Wohnung der reichen Modeschöpferin Petra von Kant, die dort mit ihrer Sekretärin Marlene wohnt. Kant lernt das junge Model Karin (Hanna Schygulla) kennen, die beiden werden ein Paar. Doch Karin wird Petras Besitzansprüchen überdrüssig und zieht wieder aus und auch die Dienerin verlässt ihre Dienstherrin am Schluss.

Die „Bitteren Tränen“ sind eine Studie gegenseitiger Abhängigkeit, selbsttäuscherischer Leidenschaft, wilder Raserei und tiefer Verzweiflung, ein seinesgleichen im deutschen Kino suchendes Melodram. Die Dekors sind künstlich, die Gewänder sind künstlich, das gesamte Appartement ist künstlich, und die künstlichste Figur ist die wie im Theater deklamierende Margit Carstensen.

Es gibt – heute wie damals – Kritiker, die dem Film Frauenfeindlichkeit vorwerfen, aber wie in vielen Fassbinders geht es gar nicht um einen Geschlechterkampf, sondern um eine Studie von Machtverhältnissen. Das eigentlich Wichtige ist das Ende, als das Dienstmädchen den Dienst quittiert, aber ob das der Weg in die Freiheit ist, darf bezweifelt werden, denn Marlene ist Freiheit nicht gewohnt und sucht vermutlich nur eine neue Sklavenstellung.

Den Machtverhältnissen sah sich, unvermeidlich, auch Margit Carstensen in der Fassbinder-„Familie“ ausgesetzt. Das Familienoberhaupt stellte klare Hierarchien für Arbeit und Privatleben auf, auch ganz öffentlich, in einem Interview von 1973 über seine zeitweilige Ehefrau Ingrid Caven: „Mit der Ingrid war es halt schwierig, weil sie so unheimlich viel Persönliches reintut, so dass dann arbeitsmäßig so unheimlich wenig herauskommt… Es ist ihr halt nicht genug, mit mir verheiratet zu sein, sondern sie wollte als Schauspielerin denselben Stellenwert haben, den meinetwegen Hanna Schygulla oder Margit Carstensen haben, aber den kann sie natürlich nicht haben, schon gar nicht, wenn sie ihn fordert.“

„Angst vor der Angst“: Asta Scheib, Margit Carstensen und Rainer Werner Fassbinder (v.l.), 1975
„Angst vor der Angst“: Asta Scheib, Margit Carstensen und Rainer Werner Fassbinder (v.l.), 1975
Quelle: picture-alliance/ obs

Für Fassbinder war seine menschliche Umgebung Verfügungsmasse. Bei „Satansbraten“ entzweite er sich mit dem Kameramann Jürgen Jürges und holte an dessen statt Michael Ballhaus, mit dem er sich auch schon einmal entzweit hatte. Das hatte auch immer mit dem Privatleben der anderen zu tun, das Fassbinder billigte oder missbilligte.

Carstensen lebte damals mit einem indischen Softie namens Krishna zusammen, der ihr Seelenfrieden versprach – aber Margit als sanftes Lamm konnte Fassbinder nicht gebrauchen. Für ihre Rolle als demütiges Groupie setzte er ihr eine Brille mit so dicken Gläsern auf, dass sie an optische Folter grenzten. In einem Interview am Drehort berief sich Carstensen auf ihr berufliches Können: Man könne als Schauspielerin dem Regisseur „im Grunde nur ein einziges Angebot machen, das wirklich stimmt… Es geht nicht, dass man wie ein Komödiant einfach verschiedene Sachen anbietet.“

Nun war Fassbinder aber gar nicht an Akteuren interessiert, die ihm nur eine, ihre Version einer Rolle angeboten, und so verschlechterte sich das Verhältnis zu Carstensen. „Misstrauen war zwischen uns“, erinnerte sie sich später, „und ich wurde immer schüchterner mit meinen schauspielerischen Angeboten; ich war innerlich sehr verklemmt, und das konnte er sehr fördern – er arbeitete auch mit solchen psychologischen Mitteln.“

Ein paar Mal hat er sie danach noch besetzt, doch sie erkannte, dass sie ihren eigenen Weg finden musste. 1977 ging sie ins Engagement an die Staatlichen Schauspielbühnen in Berlin, 1982 wechselte sie zu Hansgünther Heyme nach Stuttgart, 1995 zu Leander Haußmann an das Schauspielhaus Bochum. An allen bedeutenden deutschsprachigen Bühnen spielte sie Gastrollen, so an den Münchner Kammerspielen und am Wiener Burgtheater.

Käthe (Margit Carstensen) trinkt im neuen Kinofilm "Scherbentanz" aus ihrer Schnapsflasche (Szenenfoto). Die von Wahnsinn und Alkohol verwüstete Frau hat vor vielen Jahren ihre Söhne Jesko und Ansgar fast mit einer Axt getötet. Nun ist Jesko Mitte dreißig und leidet an Leukämie. Die völlig verwahrloste Käthe ist die einzige, die für eine rettende Knochenmarkspende in Frage kommt. Aber als Jesko ihr auf einer Familienfeier wieder begegnet, bricht die Wut des jungen Mannes mit voller Kraft aus ihm heraus. Schmerzhafte Erinnerungen und alter Hass - die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit tut weh und droht in einer Katastrophe zu enden... Starttermin des Familiendramas, der ersten Regiearbeit des Autors Chris Kraus: 31.10.2002.
Carstensen 2002 in Chris Kraus‘ „Scherbentanz“
Quelle: picture-alliance / dpa

Zweimal drehte sie mit Christoph Schlingensief, in „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker (1989) verkörperte sie Magda Goebbels; in der Medien-Persiflage „Terror 2000“ (1992) gab sie eine Detektivin. Die Nach-Fassbinder-Generationen beschäftigten sie gern, darunter Romuald Karmakar, Chris Kraus, Oskar Roehler, Detlev Buck und Frauke Finsterwalder.

Ganz hat sie ihr Fassbinder-Jahrzehnt nie losgelassen. In dem Bodensee-Tatort „Wofür es sich zu leben lohnt“ spielte sie vor sieben Jahren mit den Fassbinder-Kolleginnen Hanna Schygulla und Irm Hermann ein Trio alter Damen, die aus moralischen Gründen zu Mörderinnen werden. Es wurde ihr letzter Auftritt. Nun ist Margit Carstensen mit 83 Jahren im schleswig-holsteinischen Heide gestorben, nicht weit von ihrem Geburtsort Kiel.

Source: welt.de