Nachhaltigkeitsseminar. Lernen vom Wald
Warum nur gewöhnen sich so viele Erwachsene das Spielen ab? Hier auf der Waldlichtung von Einöd im Heldburger Land rennen 25 Männer und Frauen um die Wette. Sie greifen ein Stöckchen aus einer Schale, sprinten zu einem Ziel wenige Meter entfernt, werfen es dort in die nächste Schale und stellen sich wieder hinten an. Es macht ihnen sichtbar Spaß, sie geben alles. Nach drei Minuten ein Pfiff: Der Seminarleiter bittet darum, die drei Schalen in die Mitte zu tragen und zu beschreiben, was passiert ist. Wie zu Beginn sind in allen Gefäßen etwa gleich viele Stöckchen. „Insgesamt ist das System im Gleichgewicht.“
Der Großteil der Teilnehmer ist angestellt beim fränkischen Familienunternehmen ESN, das sich innerhalb von drei Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Anbieter für Gummibeläge von Tischtennisschlägern auf der Welt gemausert hat. Gegründet vom früheren Bundesligaspieler Georg Nicklas mit einem verstorbenen Partner, schreibt sich der Mittelständler mit gut 300 Mitarbeitern auf die Fahne, nicht nur die griffigeren Beläge herzustellen, sondern das auch nachhaltiger zu tun als andere. Der Ausflug in die waldreiche Gegend im südlichen Thüringen und das Laufspiel sollen diesen Anspruch untermauern.
Nächste Runde: Nun nimmt die Gruppe, deren Schale für den Wald steht, vor jedem Sprint zwei Stöckchen heraus und wirft sie in die Schalen, die mit „Mensch“ und „Zeit“ beschriftet sind. Nach drei Minuten ist ihre Schale leer. „So sah der Wald vor 200 Jahren aus“, sagt Seminarleiter Joachim Hamberger. „Erst dann kam es zur Entlastung durch die ‚Wälder unter der Erde’.“ Gemeint sind fossile Brennstoffe. Deshalb integriert er im dritten Durchlauf fossile Lager ins Spiel. Aus dem Körbchen dürfen die Sprinter fünf Stöckchen herausnehmen.
„Lang zu, Thomas, lang zu!“, ruft ein Mitarbeiter seinem Chef zu. Der zweite Geschäftsführer von ESN, Thomas Säger, hat sich einen ganzen Tag genommen, um hier im Wald dabei zu sein. Eine 7,4 MWp große PV-Anlage und 14 Ladesäulen auf dem Firmengelände reichen ihm nicht, auch nicht die Mitgliedschaft im internationalen Verein Fair Rubber oder die firmenübergreifende Fahrgemeinschaft. Und auch nicht die 218 Punkte auf einer Skala von minus 3600 bis plus 1000 in der Umweltbilanz als gemeinwohlorientiertes Unternehmen. Die Hälfte der Teilnehmer heute sind Nachhaltigkeits-Multiplikatoren. Das Waldseminar soll sie noch mehr für ihr Thema sensibilisieren – dort, wo das Konzept Nachhaltigkeit im frühen 18. Jahrhundert entwickelt wurde. „Ein ganz kleiner Schritt“, sagt Säger. Das Körbchen, aus dem seine Mitarbeiter fünf Stöckchen nehmen, ist nach drei Minuten fast leer, die anderen sind voll. Fossile, unnachhaltige Welt.
Der zweite Geschäftsführer saß am selben Morgen am Lenkrad des Busses, mit dem die Truppe aus Hofheim um kurz nach neun am alten Bauernhaus in Einöd ankam, kurz hinter der bayerisch-thüringischen Landesgrenze, glänzend-sanierte Außenfassade, innen muss noch viel gemacht werden – wenn genug Geld für ein Schulungszentrum zusammengekommen ist. „Busfahrer ist mein zweiter Beruf, habe ich von meinem Vater“, sagt Säger.
Die meisten tragen nun Wander-, einige Gummistiefel, was sich als hilfreich erweist. Viele sind mit Rucksack und ESN-Regenjacke ausgestattet. Man kauft ihnen ab, dass sie für einen Sportartikelhersteller arbeiten. Zwei Mitarbeiterinnen der Schweinfurter Firma Riedelbau sind auch dabei, um zu prüfen, ob das neue Seminarkonzept auch für sie taugt. Nachhaltigkeit macht Schule.
Nach einer kurzen Einführung im Bauernhaus auf Bierbänken, die noch auf vielfältige Weise zum Einsatz kommen werden, stapfen die Teilnehmer los. Die Gummisohlen quietschen über die feuchte Wiese. Der Blick wird frei auf die Veste Heldburg, die Leuchte Frankens genannt wird, aber auf der Thüringer Seite liegt. Wenn man mit Joachim (Hamberger) unterwegs ist, erfährt man auch, dass der Hügel entstanden ist, weil der 220 Millionen alte Keuper-Boden rissig wurde und vor 10 Millionen Jahren Basalt nach oben drang. Es wird viel um lange Zeithorizonte im Waldseminar gehen, aber länger als 220 Millionen Jahre müssen die Teilnehmer nicht zurückdenken. Wenn er kurz stehenbleibt, um zu erzählen, wird Hund Helena an seiner Seite nervös.
Waldbesitzer Winfried (Westhäuser) hatte einst das Ziel, Forstwirtschaft zu studieren. Doch in der DDR war er nicht bereit, in die SED einzutreten oder drei Jahre in der Nationalen Volksarmee zu dienen. Also musste er seine Pläne aufgeben, wurde Straßenbaumeister und autodidaktischer Förster am Wochenende. Nach der deutschen Einheit ergab sich die Chance, Flächen von Profiteuren der Bodenreform zu übernehmen. Winfried wurde zum Förster des Herzens.
Nachdem er ein Forstkonzept geschrieben hatte und nach ersten Widerständen zum Zug kam, konnte er einen Wald nach seinen Vorstellungen entwickeln. Zweieinhalb Jahrzehnte später erkennt man seine Absicht. Neue Flächen kamen hinzu. Er experimentierte mit einer Vielzahl von Baumarten mehrerer Kontinente. Autodidaktisch, nicht immer nach Regeln der Förster. Mit Anfang siebzig sagt er: „Jetzt geht mir die Luft aus.“ Deshalb will er Partner dazu holen, sein Zentrum errichten. „Ihr seid die ersten, denen ich das erzählt habe“, wird er später in der Abschlussrunde sagen. „Das ist ein besonderer Augenblick. Ruft mich an.“
Um den ökologisch wichtigen Waldrand zu entwickeln, musste Winfried unkonventionell vorgehen. Denn um Unzufriedenen in der DDR die Flucht zu erschweren, hatten die Behörden Gift gespritzt. So konnten keine Pflanzen wachsen, die ihnen Sichtschutz geboten hätten. Es war ein Experiment, welche Bäume sich hier entwickeln würden.
Schwarznuss und Douglasie probierte er aus. Winfried, selbst ernannter Nuss-Verrückter, versuchte einiges, was im deutschen Zukunftswald eine Rolle spielen wird, weil solche Arten resistenter gegen den Klimawandel sind. Kaum hat der Seminarleiter das erklärt, fährt der Waldbesitzer mit dem Toilettenhäuschen auf dem Traktoranhänger den Forstweg entlang und winkt der Gruppe. Auf die Teilnehmer warten mehrere Stationen im Wald. Sie sind so ausgesucht, dass man an ihnen Entwicklungen belegen kann. Die Teilnehmer werden mit der Methode vertraut gemacht, mit zwei Zollstöcken die Biomasse eines Hektars per Überschlagsrechnung zu bestimmen. Sie werden lernen, wie sich Tannen gegen Rehverbiss schützen lassen, wie und warum Förster Bäume asten. Aufs Handy schaut in der Zeit fast niemand, die Gespräche drehen sich um das, was sie sehen.
Die ESNler erfahren, dass die Fichte durch ihre kurzen Wurzeln gut für Hänge geeignet war, durch ihr schnelles Wachstum aber nach dem Zweiten Weltkrieg Lücken schließen konnte, die durch Reparationen in Form von Holz gerissen wurden. „Vom Wildschwein zum Hausschwein“, sagt Seminarleiter Joachim, der noch an anderen Stellen zeigen wird, wie problematisch Monokulturen sind.
Ko-Geschäftsführer Thomas (Säger) ist vorn dabei. Werden drei Freiwillige gesucht, ist er einer davon. Wenn geastet wird, nimmt er als Erster die Säge in die Hand. „Thomas Säger sägt“, scherzt einer seiner Mitarbeiter. Vor ihm stapft Ruth, die gute Seele des Unternehmens, durch den Wald. Nass wird sie nicht, sie hat sich beim Discounter vorher Gummistiefel gekauft. „Die Stiefel sind super – aber auch nachhaltig?“, fragt Thomas. Bei ESN wird das offene Wort gepflegt.
Thomas war der siebte ESN-Mitarbeiter. 1996 hat er sich auf eine Stellenanzeige beworben. Heute ist er Entwicklungschef, kennt die Schwächen in der Lieferkette und prüft, ob es für Kautschuk andere Bezugsquellen als China und Vietnam gibt. Eigentümer Nicklas nehme das Thema Nachhaltigkeit sehr ernst, erst recht, seit er Opa geworden ist.
Deshalb ist Budget für einen Tag im Wald mit knapp einem Zehntel der Belegschaft vorhanden. Dabei sieht sich Säger selbst gar nicht als Vorbild, seine Frau sei Note 1 bis 2, er eher 3 bis 4. Aufs Grillen zu verzichten, sei ihm nicht leicht gefallen. Aber als es galt, nachhaltige Strukturen zu schaffen, ging er voran.
Hürden gebe es überall: Die Belegschaft komme aus einem weiten Umkreis, einige der Thüringer machten nicht alles mit, was mit Ökologie zu tun hat. Die Behörden brauchten für vieles zu lang. Trotzdem solle noch in diesem Jahr ein Batteriespeicher stehen. Am Seminar heute nehmen Pioniere teil. Sie haben sich als Multiplikatoren beworben und sollen den Gedanken ins Unternehmen tragen. „Es ist aber schwer, ein Mindset zu schaffen. Die Leute sollen auch im Privaten nachhaltiger denken“, sagt er.
Kurz vor dem Mittagessen erreicht die Gruppe eine Stelle mit verschiedenen Eichen. Monika, Abteilung Group Strategy, misst eine Fläche von zehn mal zehn Metern ab. „Ich muss zählen, dabei bin ich gar nicht im Rechnungswesen“, sagt sie. Nach feuchtem Beginn kommt gerade die Sonne heraus. Monika zählt 16 Bäume; auf einen Hektar wären es hochgerechnet 1600. Die Bäume sind zwischen 20 und 30 Jahren alt. Winfried tritt vor die Gruppe. „Ich habe das 1997 gekauft, damals waren hier Brombeersträucher. Jemand sagte, hier sollten Eichen sein“, erzählt er. 24 kleine Fäden habe er gezählt und sie freigelegt. „Das hat viel Arbeitszeit und Benzin gekostet.“
„Wer eine Vorstellung von der Zukunft hat, handelt anders in der Gegenwart.“
JOACHIM HAMBERGER
Joachim sieht die Gelegenheit gekommen, seinen Lehrsatz für den heutigen Tag loszuwerden: „Winfried hat etwas getan, weil er eine Vorstellung von der Zukunft hatte“, ruft er der Tischtennis-Truppe mit heiserer Stimme zu. Helena ist ausnahmsweise ganz ruhig. „Wer eine Vorstellung von der Zukunft hat, handelt anders in der Gegenwart.“
Im Wald müsse man bisweilen zwei Winfrieds lang warten, bis Bäume reif zum Ernten seien. Für Forstwirte sei es selbstverständlich, den Ertrag früherer Generationen zu nutzen und für den Ertrag künftiger Generationen zu sorgen. Das Prinzip der Nachhaltigkeit, von Hans Carl von Carlowitz kurz vor seinem Tod in „Sylvicultura oeconomica“ erstmals so benannt, sei Förstern in Fleisch und Blut übergegangen. Joachim hat eine aufwendige Neuauflage des Klassikers herausgegeben. Er verströmt aus jeder Pore Nachhaltigkeit. Streng und klar zu Hündin Helena, vertraut mit allen Details eines artenreichen Zukunftswalds. Jemand, der in langen Zeitbögen denkt.
Durchatmen. Das geht ja gut im Wald. Handeln für künftige Generationen. Profitieren von den Ahnen. Brombeersträucher kappen, damit kleine Eichen groß werden. Nicht über das hinaus konsumieren, was die Natur zum Wachsen bringt. Joachim gelingt es gerade, spielerisch einige der Grundkonzepte der Nachhaltigkeit in den Köpfen zu verankern.
„Wir schneiden uns frei“, sagt Thomas, als er an Station 4 ankommt. Mit einer Säge an einem langen Stab soll er Äste einer Douglasie entfernen. Dreimal geht es gut, dann schneidet er tief in die Rinde. Ob es später einmal nützt und der Baum sich gegen Konkurrenten durchsetzt, ist längst nicht ausgemacht. Viel Arbeit für künftige Generationen, deren Wirkung man noch nicht ausmachen kann. Später darf Thomas einen kleinen Eichentrieb inmitten sprießender Fichten freilegen. „Wie viel machen wir davon weg?“, fragt er Joachim. Es ist mehr, als er dachte. Nächstes Jahr sollen sie schauen, was daraus wurde.
„Keiner von den Teilnehmern ist ein Weltretter. Aber wenn man privat überlegt, ob man in den Herbstferien in die Türkei fliegt oder in den Schwarzwald fährt, hat es schon etwas ausgelöst.“
MICHAEL
Als sie alle vier Stationen passiert haben, sagt Michael aus der Logistik: „Keiner von den Teilnehmern ist ein Weltretter. Aber wenn man privat überlegt, ob man in den Herbstferien in die Türkei fliegt oder in den Schwarzwald fährt, hat es schon etwas ausgelöst.“ Die zwei Mitarbeiterinnen von Riedelbau wollen ihrer Geschäftsführung auf jeden Fall empfehlen, so ein Seminar auch zu buchen. Dann pflanzt das ESN-Team am Waldrand den Baum des Jahres, eine Mehlbeere. Und fertig ist das Seminar.
In der Abschlussrunde auf den Bierbänken ist viel zu hören vom Denken an die Zukunft, vom hohen Aufwand für künftige Generationen, vom Umgang mit Ressourcen. „Ein super geiler Tag“, sagt einer aus der Gruppe. Joachim läuft mit einem Zettelkasten an allen Teilnehmern vorbei. Thomas zieht seinen Wahlspruch heraus, verzieht seine Miene und überlegt, wie er an einen anderen kommt. Er ist von Gandhi: „Sei du selbst der Wandel, den du in der Welt sehen willst.“ Für einen, der sich eine Note zwischen 3 und 4 für Nachhaltigkeit geben würde, ist das viel verlangt. Dabei war er es, der seine Leute heute hierher gefahren hat.