Nachbarn | Russland/Finnland: Die Grenze ist geschlossen, andererseits kein unüberwindbarer Schutzwall

Zwischen ruhigen Seen, dichten Wäldern und Sommerhäusern in Nordkarelien ist die Grenze zwischen Finnland und Russland fast unsichtbar. Meriinaho, ein Teil der finnischen Grenzstation Ilomantsi, liegt näher an St. Petersburg als an Helsinki und ist zugleich der östlichste Punkt der kontinentalen Europäischen Union.

Zuweilen ragt ein unauffälliges Paar gestreifter Glasfaser-Pfosten aus dem Blaubeerkraut heraus: einmal Blau-Weiß für Finnland, dann wieder Grün-Rot für Russland. Trotz temporärer Spannungen und mehrerer Kriege galten diese spärlich aufgestellten Pfeiler – plus Überwachung durch finnische und russische Grenzsoldaten – bis vor Kurzem als ausreichend, um die Demarkationslinie zwischen den Nachbarn zu markieren. Aber die Stimmung auf beiden Seiten der 1.340 Kilometer langen Grenze, die mittlerweile eine wichtige NATO-Grenze ist, schwankt beträchtlich.

Präsident am Zaun

Als Finnlands Präsident Alexander Stubb kürzlich mit dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj und Donald Trump im Weißen Haus zusammentraf, um Möglichkeiten zu erörtern, wie man den Krieg in der Ukraine beenden könne, zeichnete er die Grenze auf ein Stück Papier, um dem US-Präsidenten die kollektive Besorgnis Europas zu vermitteln. „Wir kommen zwar aus einem kleinen Land, aber wir haben eine sehr lange Grenze zu Russland“, erklärte er Trump. „Und natürlich haben wir unsere historischen Erfahrungen mit Russland, sie resultieren aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Winterkrieg 1939 und 1940.“ Im Versuch, Optimismus zu verbreiten, fügte Stubb hinzu: „Wir haben 1944 eine Lösung gefunden, und wir werden sicher auch 2025 eine finden.“

Aber abseits der in Besprechungsräumen diskutierten Best-Case-Szenarien bleibt eine solche Lösung schwer fassbar. Nach seiner Wahl im Vorjahr nutzte Stubb seine erste Reise als Präsident, um die Grenze in Nordkarelien zu besuchen und sich davon zu überzeugen, dass „alle Maßnahmen ergriffen werden, um zu erreichen, dass das ganze Land bewohnt bleibt. Wir können es uns nicht leisten, Ostfinnland, Nordfinnland oder irgendeine andere Region verkümmern zu lassen.“

Seit Russlands Ukraine-Invasion im Februar 2022 trat man in Rekordgeschwindigkeit der NATO bei. Bald darauf wurde die drastische Entscheidung getroffen, die gemeinsame Grenze mit Russland auf unbestimmte Zeit zu schließen, da Moskau in einer Form der „hybriden Kriegsführung“ Asylsuchende nach Finnland lenke, so die Begründung. Gegenwärtig werden auf einer Länge von fast 200 Kilometern einzelne Abschnitte eines Grenzzauns errichtet, der irreguläre Migration verhindern soll. Knapp 200 Kilometer östlich von Tohmajärvi sind erste neue Sperranlagen in Nordkarelien zu besichtigen. Russland hat im Gegenzug sein 44. Armeekorps stationiert, dessen Hauptquartier in der Stadt Petrosawodsk liegt.

Im Juni verhafteten finnische Grenzwachen einen Mann, der über die Grenze nach Nordkarelien kam und sich – laut finnischen Medien – als ein Überläufer zu erkennen gab, der einst zur Gruppe Wagner von Jewgeni Prigoschin gehört haben soll. Bisher hat der Grenzschutz weder bestätigt noch dementiert, dass der Betreffende wirklich in dieser paramilitärischen Miliz diente. Allerdings wurde mitgeteilt, es gebe eine Person mit „Wagner-Verbindungen“ in einem der Aufnahmezentren.

„Die Leute haben Angst vor den dichten Wäldern“

Matti Pitkäniitty, Kommandant des Grenzschutzbezirks Nordkarelien, ist überzeugt, dass illegale Grenzübertritte von desertierten russischen Militärs ein wachsendes Problem werden könnten. Er deutet auf eine Schneise in der Waldlandschaft, über die früher ein alter Feldweg verlief, bis sich der Grenzverlauf 1940 nach dem damaligen sowjetisch-finnischen Krieg veränderte, was dazu führte, dass Helsinki einen Teil Kareliens abtreten musste. Die meisten Zivilisten, die illegal über die Grenze wollen, halten sich an Straßen, was die potenziellen Routen beschränkt.

„Die Leute haben Angst vor den dichten Wäldern“, sagt Pitkäniitty. Für einen russischen Soldaten auf der Flucht vor dem Ukraine-Krieg sei das hingegen kein Hindernis. „Der weiß natürlich, wie man sich einen Weg durch dichte Wälder bahnt und überlebt, wenn man ein paar Tage versteckt bleiben muss.“ Angaben dazu, wie viele russische Soldaten sich tatsächlich über die finnische Grenze abgesetzt haben, gibt es nicht. „Es ist nicht wie bei der Berliner Mauer, wo man einen wirklich guten Schutzwall hatte; hier gibt es ganz andere Modalitäten“, erklärt Pitkäniitty.

Die Grenzverbände würden sich auf Sensoren und Drohnen stützen, es gebe eine Art natürliche Abschreckung durch die Wälder, dazu die wachsamen Augen von Einheimischen. „Ich gehe davon aus, dass wir kein fehlerfreies System haben, sodass die Möglichkeit besteht, die Grenze unbemerkt zu überschreiten – aber nicht in großem Umfang.“ Dass sich auf diese Weise womöglich Soldaten absetzen, die Kriegsverbrechen begangen haben, hält er „für eine große Bedrohung“. Überhaupt sei die finnische Gesellschaft vor die heikle Frage gestellt: „Wie gehen wir mit russischen Männern um, die im Krieg gekämpft haben?“

Laut Verfassung ist jeder finnische Staatsbürger zur Landesverteidigung verpflichtet. Alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren können zum Militärdienst einberufen werden. Die Jungen werden in der Regel in dem Jahr mobilisiert, in dem sie das 18. Lebensjahr vollenden. Je nach ihrer körperlichen Eignung kann die Ausbildung zwischen 165 Tagen und einem Jahr dauern. Frauen können sich freiwillig melden.

An Nordkareliens einzigem Straßengrenzübergang in Niirala ist derzeit wenig Betrieb. Einst nahmen viele Fahrzeuge mit russischen Nummernschildern diese Route, Nordkarelien war ein beliebtes Urlaubsziel. Straßenschilder auf Russisch erinnern daran. Sie warnen Fahrer, auf einen sicheren Abstand zu achten. Noch immer kommt einmal pro Woche ein Zug aus dem Nachbarland über die Grenze, der nicht sanktionierte lebenswichtige Güter wie Düngemittel und Saatgut transportiert.

Im Wald, in der Nähe der Stadt Joensuu mit ihren 77.000 Einwohnern, die 1848 von Zar Nikolaus I. gegründet wurde, bildet die Grenzwache von Nordkarelien Wehrpflichtige aus, die diesen Sommer rekrutiert wurden. Sie leben in niedrigen Zelten und müssen sich einem Überlebenstraining unterziehen.

Gerade übt eine Einheit in Tarnkleidung und mit bemalten Gesichtern, wie man sich als kleiner, gut gedeckter Trupp durch den Wald bewegt und mit Platzpatronen in die Gegend schießt. Darunter ist die 19-jährige Emma, die sich freiwillig dazu gemeldet hat, an einer solchen Ausbildung teilzunehmen. „Ich denke, es ist wichtig, seinem eigenen Land beizustehen“, sagt sie. „Ich weiß nicht, ob ich es mir auf Dauer als Beruf vorstellen könnte, in den Streitkräften zu dienen, aber eine gute Chance für Frauen ist es durchaus.“

Man plaudert über Pilze

Trotz der Lage Nordkareliens an einer geopolitisch wichtigsten Trennlinie gibt es weiterhin grenzüberschreitende Beziehungen, indem finnische Grenzer mit ihren russischen Kollegen zusammenarbeiten, die dem Inlandsgeheimdienst FSB unterstehen. Was sie zusammenführt, reicht vom Roden des Baumbestandes bis zur Bekämpfung besonders im Sommer ausbrechender Waldbrände.

Früher hatte Matti Pitkäniitty mindestens zehnmal im Jahr ein Treffen mit seinem Gegenüber, bei dem man sich mit der Hilfe eines Dolmetschers besprach. Seit der Invasion in der Ukraine sind bis auf Weiteres jährlich nur noch vier Begegnungen vorgesehen. Finnlands NATO-Mitgliedschaft übt darauf einen unverkennbaren Einfluss aus. „Für die Russen war die NATO historisch gesehen so etwas Ähnliches wie der Teufel, wenn sie jetzt nicht der Teufel selbst ist“, meint Pitkäniitty. „Inzwischen sind wir ein Teil davon, und das verändert ihre Sicht auf die Finnen.“

Vor dem Krieg in der Ukraine habe er im Scherz immer „die sicheren Themen“ benannt, über die man mit den Russen reden konnte, angefangen bei der Jagd über das Fischen, das Beeren- und Pilzesammeln bis hin zum Sport. „Jetzt, da Russland von internationalen Sportwettbewerben suspendiert ist, wird der Sport ausgeklammert, aber man kann immer noch übers Fischen, Jagen und über Pilze sprechen“.

Miranda Bryant ist Nordeuropa- Korrespondentin des Guardian Übersetzung: Carola Torti