Nach dem Tod von Yahya Sinwar: Wie wird dieser Krieg weitergehen?

Nach einem Jahr der Suche und Fahndung mithilfe modernster Technologie, dem Einsatz von israelischen Spezialeinheiten und mit amerikanischer Unterstützung wurde der Hamas-Kommandeur Yahya Sinwar offenbar von regulären Soldaten getötet, die über ihn gestolpert waren und gar nicht wussten, wen sie getötet hatten.

Ersten Berichten zufolge handelte es sich nicht um eine geplante Aktion: Die Soldaten wussten gar nicht, dass sie sich in der Nähe des meistgesuchten Hamas-Führers und mutmaßlichen Urhebers des Anschlags vom 7. Oktober 2023 bewegten. Erst als sie sich sein Gesicht genauer ansahen und Ausweispapiere bei ihm fanden, wurde den Truppen klar, dass sie Sinwar erwischt hatten.

Um dieses Kriegsziel zu erreichen, haben die israelischen Streitkräfte weite Teile des Gazastreifens zerstört, nach Schätzungen mehr als 42.000 Palästinenser getötet und zwei Millionen aus ihren Häusern vertrieben – eine humanitäre Katastrophe, die Sinwar mit der schieren Brutalität des Überraschungsangriffs vor einem Jahr in Gang gesetzt hat, bei dem 1.200 Israelis getötet und 250 als Geiseln genommen worden waren.

Sinwar wurde zuletzt wenige Tage nach dem Angriff vom 7. Oktober gesichtet, als er in einem Tunnel erschien, in dem eine Gruppe von Geiseln festgehalten wurde.

Es hatte geheißen, Sinwar würde sich mit Geiseln umgeben

In fließendem Hebräisch, das er sich in mehr als 22 Jahren in einem israelischen Gefängnis angeeignet hatte, versicherte Sinwar ihnen, dass sie in Sicherheit seien und bald gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht würden. Eine der Geiseln, Yocheved Lifshitz, eine 85-jährige Veteranin der Friedensbewegung aus dem Kibbuz Nir Oz, kaufte ihm seine Sorge um das Wohlergehen der Geiseln nicht ab, sondern stellte den Hamas-Anführer zur Rede.

„Ich habe ihn gefragt, warum er sich nicht schämt, so etwas mit Menschen zu tun, die sich all die Jahre für den Frieden eingesetzt haben“, sagte Lifshitz der Zeitung Davar, nachdem sie nach 16 Tagen Gefangenschaft freigelassen worden war. „Er hat nicht geantwortet. Er schwieg.“

Ein Video, das etwa zur gleichen Zeit, am 10. Oktober, von Sicherheitskameras der Hamas aufgezeichnet und einige Monate später vom israelischen Militär gefunden wurde, zeigt, wie Sinwar seiner Frau und seinen drei Kindern durch einen engen Tunnel folgt und in der Dunkelheit verschwindet.

Bei der Fahndung nach Sinwar kam sowohl modernste Technologie als auch rohe Gewalt zum Einsatz: Die israelische Regierung war bereit, alles zu tun, um den Hamas-Führer zu töten und seinen engsten Kreis zu zerschlagen, und dafür auch extrem hohe zivile Opfer in Kauf zu nehmen.

Die Geheimdienste hatten alles aufgeboten, was sie haben, um Sinwar zu finden

Die Suche nach Sinwar übernahm eine Taskforce aus Geheimdienstlern, Spezialeinheiten der Armee, Militäringenieuren und Überwachungsexperten unter dem Dach des israelischen Inlandsgeheimdienst, besser bekannt unter seinen hebräischen Initialen und den Abkürzungen Shabak oder Shin Bet.

„Hätte man mir bei Kriegsbeginn gesagt, dass er [ein Jahr später] noch am Leben sein würde, hätte ich das nicht geglaubt“, sagt Michael Milshtein, ein ehemaliger Leiter der Abteilung für palästinensische Angelegenheiten beim israelischen Militärgeheimdienst. „Aber man darf nicht vergessen, dass Sinwar sich ein Jahrzehnt lang auf diese Offensive vorbereitet hat..“

Manche im israelischen Verteidigungsapparat glaubten, dass Sinwar von Geiseln als menschliche Schutzschilde umgeben sein würde, während andere meinten, dies würde ihn verlangsamen und zum leichten Ziel machen. Das Risiko, auch Geiseln zu töten, hielt die Armee nicht davon ab, 1.000-Kilo-Bomben auf mutmaßliche Ziele der Hamas-Führung abzuwerfen. Berichten zufolge waren bei seinem Tod keine Geiseln in der Nähe von Sinwar, nur zwei weitere Kämpfer.

Israel verübt seit 1948 gezielte Tötungen: mehr als alle anderen westlichen Länder

Dabei hatten Sinwars Verfolgern lange Erfahrung mit gezielten Tötungen, die seit der Gründung des Staates zu den Taktiken des israelischen Militärs gehören. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Israel mehr Menschen mithilfe von gezielten Attentaten ermordet als jedes andere Land der westlichen Welt.

Yahalom, eine Spezialabteilung innerhalb des Combat Engineering Corps, hat mehr Erfahrung in der Tunnelkriegsführung als alle anderen Abteilungen westlicher Armeen und verfügt über ein hochmodernes, in den USA hergestelltes Untergrund-Radarsystem. Die geheime Signalaufklärungseinheit 8200 ist führend in der elektronischen Kriegsführung und belauscht seit Jahrzehnten die Kommunikation der Hamas.

Der Shin Bet hatte viele seiner Quellen im Gazastreifen verloren, nachdem Israel sich 2005 aus dem Gebiet zurückgezogen hatte. Seit dem 7. Oktober arbeitete man hart daran, ein Netzwerk von Informanten aufzubauen und rekrutierte viele aus den verzweifelten Strömen von Palästinensern, die vor dem Angriff flohen.

Trotz der militärischen und geheimdienstlichen Übermacht der Taskforce gelang es ihr nur ein einziges Mal, Sinwar vor seinem Tod am Donnerstag zu orten, und zwar Ende Januar in einem Bunker unter seiner Heimatstadt Khan Younis. Der flüchtige Kriegsherr hatte Kleidung und mehr als 1 Million Schekel (mehr als 200.000 Euro) in Bar zurückgelassen. Dies wurde von einigen als Zeichen der Panik gewertet, obwohl man davon ausging, dass der Hamas-Führer einige Tage vor der Razzia der israelischen Streitkräfte den Bunker verlassen hatte.

„Sinwar versteht die Instinkte der israelischen Gesellschaft“

Die Fahnder von Sinwar gingen davon aus, dass er keine digitale Kommunikation mehr benutzte, um nicht von den Israelies abgehört zu werden. In israelischen Gefängnisse lernte Sinwar nicht nur Hebräisch, sondern auch die Gewohnheiten und die Kultur seines Feindes.

„Er versteht wirklich die Instinkte und tiefsten Gefühle der israelischen Gesellschaft“, sagte Milshtein, der jetzt am Moshe Dayan Center for Middle Eastern and African Studies an der Universität Tel Aviv arbeitet. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder seiner Schritte auf seinem Verständnis von Israel beruht“.

Während eines ganzen Jahres in seinem Versteck kommunizierte Sinwar weiterhin mit der Außenwelt, wenn auch mit offensichtlichen Schwierigkeiten. Die langen, ergebnislosen Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Kairo und Doha wurden häufig unterbrochen, während Nachrichten von und zu dem unterirdischen Kommandanten geschickt wurden. Die vorherrschende Theorie war, dass Sinwar Kuriere einsetzt, um das Kommando zu behalten, die aus einem kleinen und schrumpfenden Kreis von Helfern stammen, denen er vertraut, angefangen bei seinem Bruder Mohammed, einem hochrangigen Militärkommandeur in Gaza.

Das Team, das Sinwar jagte, hoffte, dass sein Kontakt zu Kurieren, um Befehle zu erteilen und die Geiselverhandlungen zu kontrollieren, sich letztlich als sein Verhängnis erweisen würde, so wie ein Kurier die amerikanischen Fahnder über mehrere Jahre hinweg zu Osama bin Ladens Versteck in Abbottabad, Pakistan, führte.

Mohammed Deif, einem anderen Hamas-Kommandeur, wurde wohl sein Kurier zum Verhängnis

Es wird vermutet, dass es ein Kurier war, der die israelische Armee zu einem anderen Hamas-Anführer führte. Am 13. Juli um 10.30 Uhr tauchte Mohammed Deif, der seit 1995 auf der israelischen Fahndungsliste ganz oben stand, aus einem Versteck in der Nähe eines Flüchtlingslagers in al-Mawasi auf, um zusammen mit einem anderen Hamaskämpfer, Rafa’a Salameh, Luft zu schnappen. Innerhalb eines Augenblicks wurden beide Männer durch Bombenabwürfe israelischer Kampfjets getötet – zumindest nach Angaben der Israelischen Arme – und mit ihnen zahlreiche Palästinenser. Die Hamas besteht darauf, dass Deif noch am Leben ist, aber er wurde seitdem nicht mehr gesehen.

Viele im israelischen Sicherheitsapparat bedauerten die ihrer Meinung nach verpasste historische Chance im September 2003, als sie Kampfjets losschickten, um ein Haus zu bombardieren, in dem die gesamte Hamas-Führung eine Sitzung abhielt. Nach heftigen Auseinandersetzungen in der militärischen Befehlskette setzte die Luftwaffe aus Sorge um zivile Opfer eine Präzisionsrakete ein, die in den mutmaßlichen Versammlungsraum abgefeuert wurde, anstatt das gesamte Gebäude im Bombenhagel platt zu machen. Sie wählten den falschen Raum und die Hamas-Führer überlebten.

Im Juli dieses Jahres war die Gefahr, dass eine große Zahl von Zivilisten getötet wird, kein Hindernis mehr. Bei dem Angriff auf Deif setzte die Luftwaffe 1.ooo-Kilo-Bomben ein, also genau die Waffen, deren Lieferung die Regierung Biden im Mai wegen ihrer wahllosen Zerstörungskraft gestoppt hatte. Berichten zufolge warf Israel am 13. Juli acht dieser Bomben ab. Neunzig Palästinenser in der Umgebung wurden getötet und fast 300 verletzt.

Läutet Sinwars Tod das Ende des Krieges ein?

Yossi Melman, Mitautor von Spies Against Armageddon und Autor anderer Bücher über den israelischen Geheimdienst, sagte, Deif habe möglicherweise einen Fehler gemacht, den Sinwar vermieden habe.

„Deif war vielleicht arroganter oder er hat sich gesagt, dass sie so oft versucht hatten, ihn zu töten, und er ein Auge und einen Arm verloren, aber trotzdem überlebt hatte, also genieße er Gottes Schutz“, sagte Melman. „Die Shabak und die Armee haben nur auf diese Gelegenheit gewartet. Bei all diesen gezielten Tötungen geht es darum, auf den einen kleinen Fehler der anderen Seite zu warten.“

An den Verhandlungstischen in Kairo und Doha wurde im vergangenen Jahr über einen Deal gesprochen, bei dem Sinwar ins Exil gehen würde, und es wurde vermutet, dass er die Grenze überquert und sich in einem Tunnel auf der ägyptischen Seite der Stadt Rafah versteckt haben könnte. Solche Theorien unterschätzten den ideologischen Eifer eines Mannes, der in den Reihen der Hamas als Henker mutmaßlicher Informanten aufstieg.

Milshtein sagte schon Monate vor seinem Tod voraus: „Es liegt in seiner DNA, in Gaza zu bleiben und bis zum Tod zu kämpfen. Er wird es vorziehen, in seinem Bunker zu sterben.“

In diesem Fall wurde Sinwar sein Wunsch erfüllt. Sein Tod war vielleicht durch die schiere Entschlossenheit beider Seiten vorherbestimmt. Er würde niemals fliehen oder sich ergeben, und wenn die von Hightech-Geheimdiensten geleitete Jagd nach ihm fehlschlagen sollte, würde es Israel vorziehen, den Gazastreifen so lange zu verwüsten, bis Sinwar schließlich doch getötet wurde.

Ob sein Tod den Krieg beenden wird, ist eine andere Frage.

Ram Ben-Barak, ein ehemaliger stellvertretender Direktor des Mossad, hat vorausgesagt, dass nach Sinwars Sturz „jemand anderes kommen wird“. „Es ist ein ideologischer Krieg, nicht ein Krieg um Sinwar“, sagt Ben-Barak.

Milshtein sagt: „Nach fast 50 Jahren der Attentate verstehen wir, dass dies ein grundlegender Teil des Konflikts. Manchmal ist es notwendig, einen sehr prominenten Führer zu ermorden. Aber wenn man anfängt zu glauben, dass dies den Konflikt verändert und dass eine ideologische Organisation zusammenbricht, weil man einen ihrer Führer tötet, dann ist das ein Irrglaube. Man sollte sich keine Illusionen machen. Das wird den Krieg nicht beenden.“