Musikfest Berlin: Freiheitslaute, noch ohne Sinn
An anderen Orten hätte die 1985 geborene Schwedin Lisa Streich wohl mehr Zulauf bekommen. Sie gilt als eine der profiliertesten Komponistinnen der Gegenwart. Der Eindruck war überwältigend, der Beifall wollte nicht enden – aber das Publikum füllte den großen Saal nicht, obwohl im selben Konzert auch Helmut Lachenmann gespielt wurde. Wir wissen längst, dass viele jüngere Menschen, die an aktueller Musik stark interessiert sind, herkömmliche Kunsttempel, und ein solcher ist die Berliner Philharmonie trotz ihrer modernen Architektur, nur ungern betreten.
Ich selbst war auf Lisa Streich noch nicht aufmerksam geworden, wenn auch auf Rebecca Saunders, der sie die Anregung zuschreibt, Komponistin zu werden. Beim diesjährigen Berliner Musikfest war Streich in mehreren Konzerten vertreten, was wohl auch mit ihrem runden Geburtstag zusammenhängt. Eines habe ich am Mittwoch voriger Woche besucht, ein weiteres, über das ich in einem späteren Beitrag berichten werde, folgte am Sonntagnachmittag. Am Mittwoch spielte das Ensemble Modern unter der Leitung von Yannick Mayaud Streichs Kompositionen HIMMEL (2021) für großes Ensemble und VOGUE (2024) „für großes Ensemble, auch singend“.
Da sie zu denen gehört, die „mikrotonal“ komponieren, war ich schon nach den ersten Klängen angetan, denn ich glaube, dass diese Methode für die weitere Musikentwicklung besonders wichtig werden könnte oder schon ist, und habe in den letzten Jahren bedauert, dass Werke solcher Art nicht häufiger aufgeführt werden. Mikrotonalität bedeutet, dass die Ganz- und Halbtöne der Tonleiter dicht nebeneinander gestellt sind und so erklingen, und sogar Vierteltöne können zum Einsatz kommen, wie es bei Streichs Komposition HIMMEL der Fall war.
Sie führte es gleichsam pädagogisch vor: Als die Harfe zum ersten Mal erklang, war es ein Solo und eine kurze Pause war vorausgegangen, weshalb die vierteltonale Gestimmtheit gar nicht auffiel. Denn man verfolgte hörend nur den Tonverlauf und der wäre bei Ganz- und Halbtönen nicht anders gewesen. Aber dann setzte wieder das Ensemble ein, ganz- und halbtönig wie vor dem Solo, das sich fortsetzte, und nun hörte man die Schrägheit der Töne.
Wie Arnold Schönberg Musik mit seiner damals neuen „Zwölftontechnik“ komponiert hat – die unter anderem verlangt, dass jeder Ton, ob im Halb- oder Ganztonschritt, jedem Ton folgen kann und keiner dabei als „Grundton“ ausgezeichnet ist –, so wäre, unter Einbeziehung der Vierteltöne zwischen allen Halbtönen, auch eine „Vierundzwanzigtontechnik“ mit denselben Eigenschaften, aber noch viel mehr Optionen melodiöser Tonlinienführung denkbar.
Auch wenn sie mit vielen klassischen Instrumenten, so der Harfe, nicht möglich wäre. Man kann sich auch hier eine pädagogische Komposition vorstellen, die etwa ein besonders sprungreiches „Vierundzwanzigtonthema“ erst isoliert vor- und dann mit Ensemble- oder Orchesterbegleitung durchführt. Mir ist so etwas nicht bekannt, aber es ist auch klar, glaube ich, dass der Sinn der Mikrotonalität woanders liegt: nicht in neuartigen Melodien, sondern in der Möglichkeit, so etwas wie musikalische Skulpturen zu Gehör zu bringen. Das geschieht mehr in Tonballungen als -linien und viel weniger in Sprüngen als in kleinen Verschiebungen, die plötzlich zu markanten Veränderungen führen können.
Der mikrotonale Weg setzt sehr anders fort, was bei György Ligeti begonnen hat (1923–2006): „Klangflächenkomposition, ein Konzept, das auf den Einfluss der elektronischen Musik zurückgeht. Zugleich wendete er […] das Prinzip der Mikropolyphonie an, die auf einer Verflechtung vieler Stimmen auf engstem Raum basiert.“ So Wikipedia. Weithin bekannt wurde ein Beispiel, das in den Film 2001: Odyssee im Weltraum eingegangen ist. Aber während bei Ligeti das Prinzip der Klangfläche dominiert, so dass man hörend meint, man werde von außerirdischen Lichtbündeln getroffen, übernimmt in der Fortsetzung des Wegs immer mehr die Mikropolyphonie, die je nach Programm der einzelnen Komposition besondere Gebilde, musikalische Gegenstände erschafft, die Führungsrolle.
Dies aber nicht so, dass Tonlinien durchsichtig übereinander liegen wie in der polyphonen Musik Johann Sebastian Bachs. Die Rolle der Polyphonie besteht nun darin, dass aus der „Klangfläche“, die zum quasi körperlichen, drei- oder, wie man sagen könnte, vierdimensionalen Klangmaterial geworden ist, eine je besondere Gestalt herausgemeißelt werden kann, unvorhersehbar in der Eigenart des Ganzen wie der Teile und dabei so präzise wie Michelangelos Menschen, die sich aus dem Stein herauswinden, als stünde der Stein für Sklaverei. Wer hätte voraussagen können, dass Lisa Streich uns in einen längst vergangenen Konzertsaal zurückversetzt, wo wir einer Barockmusik wie von Händel zuhören?
Absurde Situation
Händel wird auch heute noch aufgeführt, aber wenn wir die Komposition HIMMEL hören, sind wir in der Händelzeit und erleben noch einmal die religiöse Einbettung, leben in der besten aller Welten. Doch ein dunkler Schleier, oder eine Fülle solcher Schleier, die schräg genug aber auch warm wie eine Zudecke aus dunkelbunten Federn zusammenstimmen, macht uns schmerzlich bewusst, durch wie viele Erdbeben wir von Händel getrennt sind. Es ist eine schwer zu beschreibende Mischung aus gespenstischer Unwirklichkeit und grauen Netzen, in denen man nicht sein will und doch gern ausruht.
Ja, es klingt vollkommen natürlich und zugleich als wüssten wir, dass wir in einer jedenfalls fremden Welt leben. „Fremde Vertrautheit“ ist der Text im Programmheft überschrieben. Die Komposition ist aufgebaut wie die Ouvertüre einer Barocksuite: langsamer, sperriger, auch pathetischer Beginn, an den am Ende erinnert wird, dazwischen mehr Bewegung, alles aber gebrochen in der skulpturalen Eintrübung des Rückblicks und als wäre ein Insekt, das wir selbst sind, in dunklem Bernstein gefangen. Die Musik fließt denn auch nicht gleichmäßig wie in der Barockzeit, sondern bricht immer wieder unerwartet ab, was ein weiteres Zeichen der Gebrochenheit sein kann, aber wir können es auch als ein Geflecht von Dialogen hören, die eine unterdrückte Struktur schon in der alten Barockmusik bildeten und nun erst freigelegt werden. Lisa Streich sagt zu dieser Komposition, sie sei vom Erlebnis der Coronazeit geprägt, auch wenn die Arbeit an ihr vorher schon begonnen hat.
VOGUE, das nachfolgende Stück, ist in derselben Art komponiert, lässt aber mehr an einen schweren Traum denken, aus dem man nicht aufzuwachen vermag. Dass einige Musiker zum Spiel ihrer Instrumente auch singen, nicht in der Art ausgebildeter Sänger und Sängerinnen, sondern mit dünnen Stimmen wie jeder und jede es kann, macht das Stück noch unheimlicher. Zu fürchten, man werde nicht mehr wach, ist ja eine verbreitete Todesphantasie. Die gesungenen Texte sind nicht zu verstehen: Streich selber hat sie geschrieben, „ihre Themen sind Einsamkeit, Ausbeutung, Missbrauch und Prostitution“. Das Programmheft spricht von einer „latent absurden Situation“.
Stillstand
Es folgte nach der Konzertpause Graffitti (2012/13) für großes Ensemble von Unsuk Chin, die 1961 in Seoul, der südkoreanischen Hauptstadt, geboren wurde und jetzt in Berlin lebt. Eine lebhafte und animierende Musik, die als Kontrast zu derjenigen Lisa Streichs gut platziert war – ich habe geradezu aufgeatmet –, denn sie war nicht weniger komplex, auch nicht weniger modern in der Tontechnik als HIMMEL oder VOGUE, aber eben nicht mikrotonal, im Ganzen jedenfalls nicht, und das allein erinnerte daran, was musikalische Durchsichtigkeit ist, die ihren Wert natürlich behält. Moderne Musik kann genauso durchsichtig sein wie traditionelle und ist dann nicht weniger hell.
Eine Skulptur hingegen, auch wenn sie musikalisch ist, kann und will nicht durchsichtig sein, zeigt vielmehr zusammenhängende Oberflächen, so nuanciert wie unteilbar, denen man abzulesen versuchen kann, was für ein „Selbst“ in dem Körper wohnt, den die Oberflächen umschließen. Dass es klar und distinkt hervortritt, wird man nicht erwarten dürfen, aber ist das anders, wenn ich als Subjekt auf ein anderes Subjekt treffe, oder wenn ich mich selbst zu ergründen versuche?
Chins Komposition handelt davon, was durch den Kopf geht, wenn man in einer Stadt ist. Im Mittelteil mit dem Titel „Notturno urbano“ hört man zum Beispiel Kirchenglocken wie bei einem nächtlichen Spaziergang, anschließend Nachtgefühle. Diese werden als „[m]ikropolyphone Motiv-Geflechte“, so das Programmheft, „in schlieriger Orchestrierung“ ausgemalt. Vom ersten Teil kann gesagt werden, dass er die Straßenmusik von Charles Ives weiterentwickelt, die auch schon, so Chins Titel, als „Palimpsest“ gestaltet war, bei Ives als Zusammenklang verschiedener Straßenumzüge und etwa auch noch der Reaktion von Leuten, die am Fenster stehend zuschauen. Bei Chin entsteht eine noch viel komplexere Überlagerung, die sich dennoch nie unordentlich anhört. Die eingesetzten Mittel moderner Musik machen es möglich.
Eins aber haben Chin und Streich, nach den Werken jedenfalls zu urteilen, die am Mittwoch aufgeführt wurden, gemeinsam: So modern sie die Töne auch setzen, überschreiten sie nirgends den Emotions- und Gedankenbereich der alten tonalen Musik. Sie präsentieren ihn nicht auf dem Silbertablett, er bleibt aber unverkennbar untergründig hörbar. Bei Chin hat man den Eindruck, das sei so, weil sie gar nicht anders wollen kann, bei Streich eher, dass sie eine Fesselung ans Alte spürt und auf diese aufmerksam machen will. So oder so wären das zwei Weisen des Stillstands, und ich habe mich gefragt, ob sie etwas über die Zeit aussagen, in der wir heute leben. Es wäre ein wenig erschreckend.
Wir sind es noch nicht
Auch insofern war der Konzertabend glücklich organisiert, glücklich im Unglück sozusagen, als zu dem, was Chin und Streich verband, mit einer Komposition Helmut Lachenmanns – Concertini (2005), Musik für Ensemble – der stärkste Gegenpol gesetzt wurde. Lachenmann steht noch in der Tradition des Aufbruchs, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit Komponisten wie Pierre Boulez, Luigi Nono und anderen begann. Seine Musik, angehört nach der von Streich und Chin, hört man wie eine höchst wendungs- und geistreiche Rede, die es noch wagen kann – wagen konnte! –, sich auf nichts zu stützen als auf sich selber. Welche Kraft, welche Freiheit! Und das Wagnis geht viel weiter: Man versteht kein einziges Wort von dieser Rede, so gut man auch ihren Fluß nachvollzieht – Lachenmann selbst wird sie nicht verstanden haben. Und doch, oder gerade deshalb, springt die Kraft und Freiheit aufs Publikum über.
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Mir fällt dazu ein, wie heute die Entstehung der menschlichen Sprache erklärt wird. Sprache und Musik, heißt es, haben eine gemeinsame Quelle in den Ritualen, mit denen sich früheste menschliche Gemeinwesen, das waren Stammesgesellschaften, ihrer selbst versicherten. Sie taten es, indem sie sich selbst aufführten als dieses Gemeinwesen, mit Tänzen und Sprechgesang, wobei solches Sprechen keinen Sinn aussprach – insofern noch kein Sprechen war – außer eben den, dass es die Zusammengehörigkeit der Ritualteilnehmer anzeigte. Die Rituale wurden über lange Zeit immerzu wiederholt, dabei kam es zu einer starken Ausdifferenzierung der Laute. Sprache war damit im Mindesten noch nicht geschaffen, wohl aber ihre Voraussetzung. Denn irgendwann wurde entdeckt, dass die Laute gleichbleibend kombiniert werden konnten und zwar so, dass es möglich wurde, ihnen verschiedene Bedeutungen zuzuordnen.
Mit verschiedenen Lauten verschiedenen Sinn ausdrücken können viele Tiere, aber keine Tierart hat so viele Laute hervorgebracht wie der Mensch. Darauf konnte er nur deshalb kommen, weil die Laute sinnlos waren in der Zeit ihrer Hervorbringung. Sinnlos nicht, wie gesagt, in ihrem Gesamtzusammenhang, aber als Einzellaute.
Da ich das gerade gelesen hatte – in Robert Bellahs Standardwerk Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit, Freiburg i. Br. 2020 (der Titel der Originalausgabe von 2011 trifft es besser: Religion in Human Evolution) –, übertrug ich es auf Lachenmanns Musik. Könnte man sich nicht vorstellen, dass er eine musikalische Sprache spricht, die wir, und er selbst, „nur“ deshalb nicht verstehen, weil wir die befreiten Menschen noch nicht sind, denen er sie in den Mund legt? So würde ich es gern sehen. Wir sind noch nicht befreit, aber dass uns nichts stärker eint als dieser Wille, uns zu befreien, gemeinsam, in einem befreiten Gemeinwesen und auf dem Weg dahin, das zu hören sind wir schon fähig und deshalb können wir Lachenmanns Musik folgen. Deren Einzellaute haben den Freiheitssinn noch nicht, aber dafür, ihn einst artikulieren zu können, sind sie schon einmal da.