Musik | Liederliste aus dem Automaten: Spotify setzt hinaus Zahlen statt Hörerlebnis
Für fast zwei Millionen Follower*innen hieß es Abschied zu nehmen: Spotify stellt die beliebte Playlist Modus Mio ein. Die Gründe dafür betreffen nicht nur die Deutschrap-Szene
Die Orientierung soll so einfacher werden: Spotify hat Modus Mio den Stecker gezogen
Collage: der Freitag, Material: Midjourney
Rap-Fans werden nicht schlecht gestaunt haben, als ihnen die Spotify-Playlist ihres Vertrauens am 8. Oktober die Schnulze Time to Say Goodbye mit Sarah Brightman und Andrea Bocelli ausspuckte. Sie war der Schwanengesang von Modus Mio: Fast zwei Millionen Follower*innen bekamen ein letztes Mal ein Update zum Who-is-who des Deutschraps. Sieben Jahre lang diente Modus Mio als deutschsprachiges Gegenstück zum US-amerikanischen Vorbild Rap Caviar und wurde zum Fixpunkt einer ganzen Subkultur.
Modus Mios Rolle für die Deutschrap-Szene
Der Instagram-Kanal der Playlist hatte mehr Follower*innen als einige der darauf vertretenen Artists, es gab den Podcast zur Playlist ebenso wie zahlreiche Live-Showcases. Modus Mio wurde zum Gradmesser des Status quo im Rap-Game. In Dutzenden Songs fiel der Name. Außenstehende dissten die Auswahl, Auserwählte flexten mit ihrer Platzierung. Es spricht für Spotifys Übermacht als kultureller Gatekeeper, dass eine wöchentlich aktualisierte redaktionelle Liste von 50 Musikstücken ähnlich behandelt wurde wie noch Jahre zuvor das Cover der Zeitschrift JUICE.
Es ist dementsprechend bemerkenswert, dass Spotify dieses Flaggschiff eingestellt hat. Aber keine Ausnahme: Schon Anfang des Jahres wurde Gegen den Strom vom Netz genommen, eine weitaus kleinere und doch in deutschen Indie-Rock-Kreisen ebenfalls sehr wichtige Playlist. Warum aber sollte Spotify solche Aushängeschilder seiner eigenen kulturellen Relevanz absägen?
Spotify gibt keine allzu konkreten Gründe an. Derzeit könne niemand mehr dazu sagen, heißt es auf Presseanfragen, die einzigen Anhaltspunkte bietet eine Pressemitteilung. Zukünftig stelle Spotify das hauseigene „Playlist-Ökosystem noch vielfältiger auf“, wird darin Europa-Redakteur Gerwin Laux zitiert. Das Versprechen: „Die Orientierung wird jetzt noch einfacher, die Ansprache gezielter.“
Spotify schreibt erstmals wieder schwarze Zahlen
Im Klartext heißt das, dass Fans über Playlists wie Deutschrap Brandneu oder die bald startende Playlist Deutschrap Hits auf dem Laufenden bleiben oder auf Listen zugreifen können, die nach konkreten Themen oder Vibes bestückt werden: Shisha Club, Deutschrap Party und Rap oder Liebe. Neuveröffentlichungen, Hits und Stimmungsmusik: gesichtslose Serviceleistungen für das Publikum.
Zwar ist es durchaus möglich, dass Modus Mio nach sieben Jahren schlicht in die Jahre gekommen war und die zwei Millionen Deutschrap-Fans nicht mehr oft genug einschalteten. Dass Spotify in Zukunft „eines der wichtigsten Genres“ auf der Plattform anders prägen will. Doch die Einstellung von Gegen den Strom und Modus Mio scheint repräsentativ für die jüngeren Entwicklungen in der Strategie von Spotify.
2024 war ein Jahr des Umbruchs für Spotify. Nach 16 defizitären Jahren meldete das Unternehmen erstmals schwarze Zahlen. Dem gingen strikte Sparmaßnahmen voraus. Gut ein Fünftel der Belegschaft musste gehen, darunter Mitglieder der für die Kuration von Playlists zuständigen Redaktion. Sogar die Büros in New York wurden untervermietet. Zusätzlich erlaubten neue Features wie Discovery Mode Einsparungen.
Drake klagte gegen den Discovery Mode
Discovery Mode erlaubt Künstler*innen und Labels, bestimmten Songs einen algorithmischen Schub zu verpassen: Ihre Songs werden von Spotify bei der Zusammenstellung von personalisierten Playlists priorisiert. Darum ging es unter anderem Drake bei seiner Klage gegen Universal Music Group. Der Musikkonzern habe, so der Vorwurf, Kendrick Lamars Diss-Track Not Like Us auf diese Art künstlich gepusht.
Die Klage wurde abgeschmettert, die Details des Falls bleiben im Dunkeln. Auch mehr Transparenz bezüglich Discovery Mode ist nicht zu erwarten. Bekannt ist allerdings: Rechteinhaber*innen müssen im Rahmen von Discovery Mode auf 30 Prozent der Tantiemen verzichten. Mit gut 10 Milliarden US-Dollar pro Jahr stellen diese Ausschüttungen den größten Kostenpunkt des Unternehmens dar.
Wenn redaktionell kuratierte Playlists gestrichen werden und das „Playlist-Ökosystem noch vielfältiger“ wird, erhöht das den Druck auf Musiker*innen, sich anderweitig mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Sie werden zunehmend dazu genötigt, ihre Fans durch eine Art von Direktmarketing zu erreichen. Und Spotify beim Sparen zu helfen, indem sie auf Discovery Mode zurückgreifen, um in personalisierte Playlists zu kommen.
Seit der Einführung von Modus Mio im Jahr 2018 hat sich Spotify radikal erweitert. Erst wurden Podcasts, dann Hörbücher und schließlich Videoinhalte Teil des Angebots. Musikfans können zudem Tonträger, Merchandising und Konzerttickets über Spotify kaufen. Die Plattform wird dank neuer Messaging-Funktion sogar sozialer. Spotify wird zur „everything app“ für Unterhaltung. Auch das trägt zum jüngeren finanziellen Erfolg bei.
Das Spotify-Programm der Zukunft: personalisiert und automatisiert
Das Unternehmen will sich mittels der Angebotsverbreiterung gegen die Konkurrenz durchsetzen und mehr Geld einnehmen. Weil in westlichen Märkten das Geschäft mit Streamingabos zu stagnieren droht, soll der Pro-Kopf-Umsatz erhöht werden: Statt in der Breite mehr einzunehmen, langt Spotify Nutzer*innen tiefer in die Tasche. Personalisierung und Automatisierung sind die zwei maßgeblichen Mittel dazu.
Der Name Modus Mio war schon immer deshalb gut, weil er subjektive Perspektive und die Zugehörigkeit zu „Millionen“ ausdrückte. Wenn nun eine Playlist mit dem generischen Namen Deutschrap Hits an die Stelle von Modus Mio treten soll, steht das sinnbildlich für den neuen Modus Auto bei Spotify: Statt mit kulturellem Wert kann hier mit nackten Daten gearbeitet werden, im Grunde braucht es kaum menschliches Zutun.
Zusätzlich zur nüchternen Datengetriebenheit deutet etwa der Hinweis auf individuellerer Angebote wie Shisha-Club einen anderen Paradigmenwechsel an – einen, den man durchaus als vibe shift bezeichnen könnte: Die konkrete Hörsituation und Stimmung zählt mehr als die gemeinschaftliche Erfahrung und der Diskurs über das Genre. Individualität geht über Zugehörigkeit.
Spotify konnte sich dank Playlists wie Gegen den Strom und Modus Mio zum kulturellen Gatekeeper für ganze Subkulturen aufschwingen. Das rächt sich jetzt, wo die wirtschaftlichen Prioritäten woanders liegen. Der Handlungsdruck erhöht sich, die Margen werden schmaler und das Publikum wird zunehmend atomisiert, damit ihm tiefer in die Tasche gegriffen werden kann. Vielleicht ist es wirklich: „Time to Say Goodbye“.