Musical | „Wicked“ mit Ariana Grande: Die Zauberinnen von Oz
Das Land von Oz mit der gelben Ziegelstraße und der grünen Smaragdstadt hat sich verändert. Regisseur Victor Fleming hatte in den 1930er-Jahren den Zauberer von Oz, das berühmte Kinderbuch von Lyman Frank Baum, mit Judy Garland in der Hauptrolle verfilmt. Es ist die wohl populärste der zahlreichen Adaptionen dieses Stoffes und ein technischer Meilenstein. Wenn Dorothy in die Welt von Oz eintritt und sich die zuvor schwarz-weißen Bilder plötzlich in leuchtende, knallbunte Technicolor-Farbaufnahmen verwandeln, fasziniert dieser Film bis heute.
In Wicked nun, der eine Vorgeschichte und alternative Version des ikonischen Stoffes erzählt, ist von dieser farblichen Intensität und betörenden Schönheit wenig geblieben, obwohl er nicht minder imposant und sichtlich teuer ausgestattet ist. Es regieren eher die entsättigten Pastelltöne. Gegenlicht überzieht wiederholt die Aufnahmen mit hellen Schlieren. Bilder also, die weniger mit der Kinomagie von einst zu tun haben, sondern sich den hochaufgelösten Content-Ästhetiken der Streamingdienste und sozialen Netzwerke nähern.
Will man in Hollywood heute einen Blockbuster drehen, muss man derlei Verwertungswege im Konsumverhalten einkalkulieren. Das Marketing für Wicked läuft auf Hochtouren, der Hype ist groß. Songs wie Popular sind virale Hits. Plakate, Clips und Interviews mit den Hauptdarstellerinnen Ariana Grande und Cynthia Erivo bieten quasi täglich neues Meme-Potenzial. Dazu erscheinen heimlich im Kino mitgefilmte Szenen im Netz und lösen Diskussionen über Saal-Etikette und die Rezeption im Social-Media-Zeitalter aus. Wicked steuert jedenfalls darauf zu, ein großer kommerzieller Erfolg zu werden.
Das ist insofern bemerkenswert, als Musical-Filme im Jahr 2024 zwar erstaunlich präsent in der Kinolandschaft waren, aber einen echten Publikumshit lange vermissen ließen. Joker 2 etwa vergraulte in seiner sperrigen Selbstabrechnung seine Fans und wurde zum Kassenflop. Das Gangster-Musical Emilia Pérez darf zwar auf Oscar-Nominierungen hoffen, schlug aber trotz Lobpreisungen in Cannes keine allzu hohen Wellen. Nicht zuletzt eben, weil Disneys Mega-Erfolg Vaiana 2 und Wicked inzwischen mit ihrem PR-Rummel im Rampenlicht stehen.
Die Popularität von Wicked lässt sich nicht nur mit der prominenten Besetzung – neben Ariana Grande und Cynthia Erivo sind etwa Jeff Goldblum, Jonathan Bailey und Michelle Yeoh dabei – und der kanonischen Marke Oz erklären. Der Stoff genießt schon lange Kultstatus. Die Romanvorlage von Gregory Maguire erschien 1995 und lieferte eine düstere Version von Der Zauberer von Oz für Erwachsene, die die Geschichte aus Sicht der beiden Hexen Glinda und Elphaba als politisches Drama über Fanatismus, Machtmissbrauch und Diskriminierung neu erzählt. 2003 folgte die familienfreundliche Musical-Adaption, die dem Roman zwar etwas an Komplexität und Düsternis raubte, aber am Broadway und international zum preisgekrönten Hit wurde. Dass der Erfolg nicht abreißt und der passende Zeitpunkt für eine zweiteilige Verfilmung des Musicals gekommen ist – der zweite Teil wird 2025 erscheinen –, erstaunt wenig.
Wicked ist Teil einer weitverbreiteten, medienübergreifenden erzählerischen Praxis. „Retellings“, also die Nach- und Neuerzählung bekannter Stoffe, haben eine lange Tradition und in den vergangenen Jahren einen spürbaren popkulturellen Boom erlebt. Autorinnen wie Madeline Miller, Jennifer Saint oder Ava Reid erzählen in viel besprochenen Romanen wie Circe und Ich, Ariadne oder Lady Macbeth alte Klassiker, Sagenstoffe, Dramen der Weltliteratur neu. Gregory Maguire etwa, der Autor von Wicked, hat auch Alice im Wunderland aus Sicht der Daheimgebliebenen neu erzählt. Zum selben Phänomen gehören auch die verschiedenen Ausprägungen sogenannter Fanfiction abseits des kommerziellen Literaturbetriebs, die etwa auf Plattformen wie Wattpad geteilt werden.
Was viele Neuschreibungen, Neuerzählungen und Neuinterpretationen dabei auszeichnet, ist das spielerische Verdrehen von Perspektiven und Zuschreibungen. Nebenfiguren werden zu Hauptfiguren. Patriarchalen Gewaltnarrativen stellt man feministische oder queere Positionen, Lesarten und Erzählinstanzen gegenüber. Gut und Böse werden reflektiert.
Die Schriftstellerin Serena Valentino hat in einer Romanreihe Disney-Filme aus Sicht der (vermeintlichen) Bösewichte neu erzählt. Im Kino wurden Fieslinge wie Maleficent oder Cruella ebenfalls zu tragischen Heldinnen erhoben und mit Biografien versehen. Der schon erwähnte Joker, der die Ursprünge der gleichnamigen Comic-Figur ergründet, ließe sich im weiteren Sinne ebenfalls einer solchen Tradition zurechnen. Das, was als antagonistisch markiert ist, wird hinterfragt. Man begegnet ihm empathisch. Das wohlige Gefühl des Bekannten bietet dabei einen Anker für das spielerische Variieren und Überdenken, das man ihm überstülpt. Was, wenn die vertraute Geschichte anders verlaufen wäre, wenn wir unseren Blick auf bestimmte Figuren überdenken müssten?
Schulalltag mit viel Magie
Wicked treibt eine Frage um: War die „böse Hexe des Westens“ gar nicht böse? Der Zauberer von Oz, der im Quellmaterial Dorothy und ihren Gefährten auf die Hexe ansetzt, war schließlich selbst ein Scharlatan, der seine Herrschaft auf Illusionen errichtete. Was also, wenn hinter dem ausgemachten Feindbild der Hexe noch ganz andere Motive stecken?
Am Beginn von Wicked ist die Geächtete tot, geschmolzen in einer Wasserpfütze – soweit ist die Geschichte bekannt. Das Volk feiert und atmet auf. Glinda, die gute Zauberin, darf die frohe Kunde im Land verbreiten. In Rückblenden wird erzählt, wie sich Glinda und Elphaba, die junge Frau, die man später als böse Hexe des Westens bezeichnen wird, auf der Shiz-Universität kennenlernten und zu Freundinnen wurden.
Der Film, der auf dem ersten Akt des Musicals basiert und offen endet, entpuppt sich als Fantasy-Drama auf den Spuren von Hogwarts und Harry Potter. Romanzen und Freundschaften entstehen und enden. Dröger Schulalltag, dazwischen das Experimentieren mit magischen Kräften, und im Hintergrund zieht Unheil auf: Sprechende Tiere, die einst friedlich mit den Menschen lebten, werden verdrängt und als Feinde gebrandmarkt. Dr. Dillamond, eine Ziege und der Geschichtslehrer von Elphaba und Glinda, wird verhaftet. Elphaba, die aufgrund ihrer grünen Hautfarbe selbst zu den Außenseitern zählt, ist wütend. Sie, deren Kräfte eigentlich der Macht des Zauberers dienen sollen, wird zur Widerstandskämpferin. Also erklärt man sie zur Hexe und Hexen trachtet man nach dem Leben.
Wicked ist haltungsstark und trotz seiner Franchise-Maschinerie mit viel Charme und Detailverliebtheit inszeniert. Ein Film, der sich kritisch in einer Gegenwart positioniert, in der populistische Hetze gegen marginalisierte Gruppen und die Konstruktion von Sündenböcken tatsächlich immer noch Wahlen entscheiden.
Im Stoff von Wicked schlummert ebenso ein archetypischer Konflikt über Opportunismus und Aufbegehren, verkörpert von den beiden Protagonistinnen, sowie über die Verteilung von Privilegien. Doch wie das so ist: Diejenigen Hetzer, die diesen Film sehen sollten, werden ihn wahrscheinlich ohnehin nicht sehen. Also bleibt im Kino eine Gemeinschaft, die im Weinen über die Ungerechtigkeiten der Welt oder im Wiedererkennen von Diskriminierungserfahrungen zusammenwachsen soll.
Wicked ist niedrigschwellig und oberflächlich konstruiert, spiegelt dabei aber ganz universelle menschliche Erfahrungswelten einer Mehrheitsgesellschaft und deren Schattenseiten. Die Sehnsucht nach geteiltem Leid, aber auch einem Parteiergreifen weiß der Film mit ansteckender, großer emotionaler Bandbreite und einem perfekten Gespür für Timing, auch in den Gags, zu befriedigen. Darin besteht schließlich das naheliegendste Erfolgsrezept, trotz Makeln, die man in der eingangs beschriebenen Ästhetik finden kann: Wicked ist geglückter Fanservice. Und überdies ein sehenswerter Familienfilm mit einigen grandiosen Musicalnummern, sei es das Singen in einer rotierenden Bibliothek oder das finale Defying Gravity, die große Befreiungshymne. Oder die plötzliche Intimität, die Regisseur Jon M. Chu in der ergreifendsten Szene kreiert. Sie findet in Stille statt und erzählt allein über eine wortlose Choreografie tanzender Körper gleichermaßen von einer Emanzipation und einer rührenden Solidarität. Dort liegt der eigentliche Zauber dieses Films, in dem Utopien noch lebendig sind.
Wicked John M. Chu USA 2024. 160 Minuten
Wicked John M. Chu USA 2024. 160 Minuten