„Monde vor der Landung“: Im Nebel der Vernunft

Während der Corona-Pandemie tauschten Verschwörungstheoretiker den Aluhut gegen das Protestbanner und drängten demonstrierend auf die Straße. Die Ratlosigkeit, wie man diesem Phänomen beikommen kann, ist groß. Die Abscheu, sich genauer mit der raunenden Gefahr auseinanderzusetzen, ist noch größer. In seinem neuen Roman wagt es nun Clemens J. Setz, einen Prototyp der Verschwörungstheorie literarisch zu beleuchten. Monde vor der Landung rekonstruiert die Biografie der historischen Figur Peter Bender – ein Querdenker avant la lettre, wie der Verlag ankündigt – inmitten eines sich zwischen zwei Weltkriegen ideologisierenden Deutschlands.

Es beginnt als Posse. Um seine Kameraden im Ersten Weltkrieg aufzumuntern, ersinnt der junge Aufklärungspilot Peter Bender allen möglichen Unsinn über das Weltall – demnach bewegen sich die Planeten des Sonnensystems als kosmische Boten auf die Erde zu. Im Laufe des Krieges breitet sich dann ein „mulmiger Kernbrand der Seele“ in Bender aus, und seine anfänglich ironische Erzählung erweitert sich zu einer immer umfassenderen Kosmologie. Nach einem Absturz mit schwerwiegenden Kopfverletzungen hält er sie zuletzt für ein wissenschaftliches Faktum. Die Kriegswunden verheilen, Benders Kopf allerdings bleibt auch nach 1918 mit einer Melange aus Alternativphysik und erotisch angehauchter Esoterik gefüllt.

Im Zentrum dieser Verwirrung steht die sogenannte Hohlwelttheorie, eine pseudowissenschaftliche Vorstellung des amerikanischen Religionsstifters Cyrus Reed Teed, dem zufolge wir durchaus einen runden Planeten bevölkern – allerdings nicht die Außenseite, sondern das hohle Innenleben. Bis heute vertreten einige versprengte Verschwörungstheoretiker diese offensichtliche Abwegigkeit. Doch gerade das Abwegige und Abseitige ist die Spezialität von Setz. In seinem acht Jahre zurückliegenden Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre faszinierte er etwa mit seinem Blick auf die Psychopathologie des Stalkings. Seither hat er mehrere erzählerische Werke veröffentlicht, die mal von Bäumen handeln, die sich wie träumende Giraffen bewegen, mal die Parallelen zwischen Klingonisch und Plansprachen untersuchen. Dafür wurde Setz mit einigen der wichtigsten Literaturpreise Deutschlands ausgezeichnet, darunter Raabe-, Kleist- und Büchnerpreis.

Egal ob Roman oder Gedicht, Essay oder Erzählung, in der wühlenden Bearbeitung seiner Themen geht der mittlerweile 40-jährige Setz stets mit der Systematik eines Naturforschers vor, notiert die ermittelten Ergebnisse jedoch in der Sprache eines Dichters. Seine Poetik ist gleichermaßen analytisch wie lyrisch. So auch in Monde vor der Landung: „An einer Stelle war das Wasser schaumig, als hätte der See dort den Augenwinkel voller Schlafsand. Und später, mitten im Auwald, hielt er um ihre Hand an. Sonne, Geplätscher, tannenzapfiger Harzgeruch.“ Die Neigung zur poetisch-wissenschaftlichen Übergenauigkeit bringt Setz dabei gelegentlich einen Vorwurf ein, den schon Arno Schmidt gegen Goethes Romane erhoben hat: Seine Prosa gleiche einer Rumpelkammer. Denn die Erzählperspektive kennt keine Totale, stattdessen finden unzählige Nahaufnahmen die Weite in der inhaltlichen Enge.

Trotz dieser Unübersichtlichkeit gelingt es dem neuen Roman von Setz, den Leser in seinen literarischen Kaninchenbau zu locken. An dessen Ende wartet der titelgebende Satz Benders: „Nichts ist so frei wie Monde vor der Landung.“ Zu Lebzeiten Benders hatte niemand den Himmelskörper besucht, niemand konnte sinnliche Gewissheit über seine Beschaffenheit haben, was natürlich zu großer Deutungsfreiheit einlud. Aus heutiger Sicht mögen Benders Schlussfolgerungen abstrus wirken, aber lehrt die Geschichte nicht, dass kanonisiertes Wissen oft vom kritischen Individuum korrigiert wird? Diesen ambivalenten Wert der freien Skepsis – die mal einen Kopernikus, mal einen Bender hervorbringt – erforscht Setz.

Benders intellektuelle Selbstständigkeit hat ihre fatalen Nebenwirkungen. Nicht nur überlässt er es seiner Frau Charlotte, inmitten der Weltwirtschaftskrise für den Broterwerb der Familie zu sorgen, während er selbst dem Traum einer eigenen Glaubensgemeinschaft nachhängt und munter fremdgeht. Obendrein ist er in absurdem Maße unprophetisch veranlagt: Verlässlich sagt Bender das Falsche voraus. Über die Innenwelttheorie hinaus stellt der Kriegsveteran ständig fehlgeleitete Zeitdiagnosen auf, die sich vor dem Hintergrund des aufziehenden Nationalsozialismus als tödlich erweisen. Unter der NS-Herrschaft wird Charlotte wegen ihrer jüdischen Herkunft, Bender aufgrund einer vermeintlichen Geisteskrankheit verfolgt. Auf die Bedrohung reagiert er jedoch nicht mit Fluchtplänen, sondern mit Beschwichtigungsversuchen und Fehlurteilen. Sogar sein bevorstehendes Ende verkennt Bender: In den Holocaustdeportationen, denen er selbst zum Opfer fallen wird, meint er anfangs einen gewissen „Humor“, „eine Leichtigkeit, eine Menschlichkeit“ zu verspüren. Erst spät begreift Bender die Katastrophe. Zu spät.

Mit enormem Rechercheaufwand veranschaulicht Setz die Verzweiflung der gequälten Familie durch einmontierte Faksimiles ihrer Korrespondenzen und Notizen. Seien es Benders flehentliche Briefe an einen amerikanischen Hohlwelttheoretiker oder Charlottes resignierte Gedichte: Regelmäßig kassiert der Roman seine ästhetische Distanz und erinnert mittels historischer Dokumente und Fotografien daran, dass da reale Personen ihrer Ermordung entgegentaumeln. Dafür hat Setz eigens eine Rechercheagentur beauftragt, die auch bei der Entstehung von Juli Zehs und Simon Urbans jüngst erschienenem Roman Zwischen Welten mitwirkte.

Es ist diese zeitgeschichtliche Nähe, mit der Setz einen empathischen Zugang zu Bender findet. Der Hohlwelttheoretiker mag einem Irrglauben verfallen sein, doch immerhin agiert er als selbstständiger Denker. Der Mehrwert solcher Individualverblendung zeigt sich, wenn sie mit der Kollektivverblendung des Nationalsozialismus kollidiert. Während Bender bis zu seiner Ermordung im Konzentrationslager auf der Innenwelttheorie beharrt, läuft sein Kollege Johannes Lang bereitwillig zur NS-Mystik über. Mit dieser Gegenüberstellung von Einzelgänger und Opportunist interpretiert Setz den aufklärerischen Emanzipationsappell neu: Wenn jeder den Mut aufbringt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, werden zwar einige auf Abwege geraten; doch es sind nicht unbedingt die Irrenden, von denen eine Gefahr ausgeht, sondern die Konformisten, die unhinterfragten Ideologien erliegen. Wie ein moderner Don Quijote kämpft Peter Bender mit den Windmühlen unseres Aufklärungsverständnisses, zugleich zelebriert und parodiert er das Ideal der freien Vernunft.

Obwohl Setz der Versuchung platter Gegenwartsbezüge widersteht, fügt sich sein Roman bestens in die postpandemische Stimmungslage: Während noch vor Kurzem kritischen Nachfragen zu Impfungen, Maskenpflicht und Lockdowns ein verschwörungstheoretischer Modergeruch anhaftete, gelten sie mittlerweile als Ausweis wissenschaftlicher Integrität. Dieser jähe Umschwung widerlegt keineswegs die Tatsache, dass es aufseiten der Querdenker rechte Agitatoren, aufseiten der Maßnahmenbefürworter gemäßigte Skeptiker gab. Dennoch nestelt ein Schamgefühl am kollektiven Bewusstsein, andersdenkende Kritiker pauschalisierend diffamiert zu haben, bloß weil sie eben genau das waren: Andersdenkende.

Im Gegensatz zum Thesenroman, wie ihn Zeh und Urban vorgelegt haben, benötigt Monde vor der Landung keinen aktuellen diskurstheoretischen Überbau zur Existenzberechtigung. Setz zeigt die Würde innerhalb Benders Lächerlichkeit auf, er rekonstruiert seine Holzwege, kleidet sie mit Marmor aus – und beschert dem Lesepublikum damit einen monumentalen Roman.

Clemens J. Setz: Monde vor der Landung. Roman;  Suhrkamp,  Berlin 2023; 528 S., 26,– €, als E-Book 21,99 €