Mithu Sanyal: Gibt es vereinen reinen Blick uff Literatur – ungehindert von Politik?

In der ZEIT der vergangenen Woche (Nr. 22/24) erschien unter dem Titel „Die Jury“ ein Bericht der Schriftstellerinnen Juliane Liebert und Ronya Othmann. Er handelte von ihrer Arbeit in der Jury des renommierten Internationalen Literaturpreises des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) im vergangenen Jahr. Die beiden Autorinnen schilderten in ihrem Text detailliert, dass die Jury-Sitzungen stark von identitätspolitischen Fragestellungen geprägt gewesen seien: „Es ging um Nationalität, ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, um Politik und nicht um Literatur.“ Eine einmal beschlossene Auswahl für die Shortlist sei deshalb revidiert worden. Grundsätzlich habe man gegen die eigenen Kriterien der Preisvergabe verstoßen, denn die Auswahl sollte getroffen werden „ohne Bevorzugung oder Vorurteile in Bezug auf Verleger*in, Herausgeber*in, Autor*in, Übersetzer*in, Nationalität, ethnische Zugehörigkeit sowie politische und religiöse Ansichten“. Der Artikel fand eine außergewöhnlich große Resonanz in den Medien und der Öffentlichkeit und wurde kontrovers diskutiert. Unter anderem wurde den Autorinnen Indiskretion vorgeworfen, weil sie aus vertraulichen Besprechungen zitierten. Das HKW weist die Kritik des Beitrags zurück: „Es trifft nicht zu, dass der Internationale Literaturpreis 2023 nach politischen Kriterien vergeben wurde. Es entspricht nicht der Wahrheit, dass Autor*innen wegen ihrer Hautfarbe in die Shortlist hinein- oder hinausgewählt wurden.“ Und weiter: „Der Satz ‚Du als weiße Frau hast hier eh nichts zu sagen!‘ ist so nicht gefallen. Dies haben fünf der sieben Jury-Mitglieder und zahlreiche in der Sitzung anwesende HKW-Mitarbeiter*innen unabhängig voneinander bezeugt.“

Juliane Liebert hingegen hat ihre Vorwürfe am vergangenen Montag in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ bekräftigt. Das HKW habe dabei zugesehen, „wie die Statuten des Preises offen verletzt wurden“ – deshalb hätten sie sich zur Offenlegung des Vorgangs entschlossen. Die ZEIT hat das Haus der Kulturen der Welt um ein Interview gebeten und dem Jury-Mitglied Asal Dardan angeboten, einen Beitrag zu schreiben. Beides wurde abgelehnt. Ronya Othmann und Juliane Liebert stehen weiterhin zu ihrer Aussage, dass Autoren „benachteiligt oder ausgeschlossen wurden, weil sie ‚eine weiße Französin‘ oder ‚ein vom Feuilleton geliebter, privilegierter weißer Autor‘ sind“, wie sie der ZEIT gegenüber erklärten: „Wir haben unsere Einwände nicht erst jetzt, sondern bereits am Tag nach der Sitzung gegenüber dem HKW in einer E-Mail schriftlich skizziert. Wir wurden in der Woche darauf – mit Dank für unsere Offenheit – zu einem Gespräch mit dem Intendanten eingeladen. Einen Tag nach dem Gespräch wurde die Shortlist von sechs auf acht Autoren erweitert. Warum hätte das HKW auf unsere Intervention hin die Shortlist um genau die Autoren, die in der Diskussion angeblich nicht diskriminiert wurden, erweitern sollen, wenn unsere Aussagen nicht zutrafen? Wir haben die Vorgänge in unserem Bericht nach bestem Wissen und Gewissen dargestellt.“

Der Artikel von Juliane Liebert und Ronya Othmann hat eine im Kulturleben seit Langem schwelende Debatte aufgegriffen und beispielhaft aufgezeigt, in welchem Verhältnis heute ästhetische Kriterien zu Aspekten wie Herkunft, Weltanschauung, Hautfarbe und Geschlecht stehen. Die Autorinnen beschreiben, wie problematisch es dabei für künstlerische Auszeichnungen sein kann, wenn politische Erwägungen künstlerische, in diesem Fall literarische Kriterien aushebeln.

Wir haben zur Debatte die Autorin Mithu Sanyal befragt, die als Jurorin unter anderem beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt aktiv ist.

DIE ZEIT: Ihr Roman Identitti, erschienen 2021, zielt auf spielerische Weise mitten hinein in die Debatten um Identitätspolitik. Geht Identitätspolitik auch ohne Schwarz-Weiß und Bierernst?

Mithu Sanyal: Selbstverständlich, nur werden gerade die einseitigen und plumpen Formen von Identitätspolitik – die es natürlich gibt – deutlich häufiger von den Medien aufgegriffen, weil sie mehr Klicks erzeugen.

ZEIT: Identitti handelt von einer Professorin, deren akademischer Erfolg auch darauf fußt, dass sie sich als Person of Color ausgibt, dabei ist sie in Wahrheit weiß. Was lässt sich daraus für den Fall des HKW-Literaturpreises lernen?

Sanyal: Wenn es eine Erkenntnis für mich aus dem Schreibprozess gibt, dann die, dass alle mit ihren eigenen Geschichten, Erfahrungen und Vorannahmen an einen Fall herangehen – dass es also nicht eine richtige oder eine falsche Reaktion gibt. In Bezug auf den Literaturpreis bedeutet das für mich, dass wir alle unterschiedliche Erfahrungen mit Ausschlusskriterien gemacht haben. Die meisten dieser Ausschlusskriterien sind außerliterarisch und für Leute, die nicht davon betroffen sind, unsichtbar. Jetzt hat es – anscheinend, ich war ja nicht dabei – einmal eine weiße, französische Autorin getroffen. Das ist natürlich ungerecht. Aber daraus zu schließen, dass nur diese Autorin Opfer von Identitätspolitik geworden ist, halte ich für naiv, da ja so viel Identitätspolitik unsichtbar wirksam ist.