„Mit einer Rückzahlung jener Ukraine-Kredite ist in kaum einem Szenario zu rechnen“

Wirtschaftswissenschaftler begrüßen die unerwartete Einigung auf das 90-Milliarden-Kreditpaket in Brüssel. Es dürfe allerdings nicht damit gerechnet werden, dass das Geld jemals zurückkommt – auch nicht von Russland.

Deutsche Ökonomen begrüßten die nach langem Ringen gefundene Lösung zur weiteren finanziellen Unterstützung der Ukraine. Sie gehen allerdings nicht davon aus, dass die Europäische Union die 90 Milliarden Euro jemals zurückbekommen wird.

„Dass die Ukraine den Kredit später zurückzahlen kann, ist nicht anzunehmen“, sagte Clemens Fuest, Präsident des Münchner Ifo-Instituts, gegenüber WELT. Aus seiner Sicht ist es deshalb wichtig, durch Ausgabenkürzungen in anderen Bereichen des EU-Haushalts dafür zu sorgen, dass der Kredit mittelfristig bedient werden kann. „Die Prioritäten in Europa haben sich verändert, das muss sich auch im EU-Haushalt widerspiegeln“, so der Wirtschaftswissenschaftler weiter.

Ähnlich äußerte sich Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim: „Mit einer Rückzahlung der Ukraine-Kredite ist in kaum einem Szenario zu rechnen.“ Russland werde auf absehbare Zeit in jedem denkbaren Szenario für einen Friedensschluss in der Lage sein, die Verweigerung von Reparationszahlungen und den Rückerhalt seiner Devisenreserven durchzusetzen, sagte der Leiter des Forschungsbereichs Öffentliche Finanzwirtschaft.

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Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte dagegen nach der Einigung zu nächtlicher Stunde in Brüssel darauf verwiesen: „Die EU behält sich ausdrücklich vor: Sollte Russland keine Entschädigung leisten, werden wir – in völliger Übereinstimmung mit dem Völkerrecht – die russischen Vermögenswerte für die Rückzahlung heranziehen.“ Der jetzige Beschluss sieht vor, dass Kiew das Geld erst zurückzahlen muss, wenn es Reparationszahlungen aus Moskau erhalten hat.

Anders als von Merz geplant, wird für die Darlehen über insgesamt 90 Milliarden Euro in den nächsten zwei Jahren das eingefrorene Vermögen der russischen Zentralbank nicht direkt genutzt. Das Geld soll vielmehr aus dem EU-Haushalt kommen.

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Der Kanzler musste sich dabei nicht nur den Bedenken Belgiens beugen, wo der Zentralverwahrer Euroclear seinen Sitz hat. Er scheiterte am Ende auch am Widerstand von Ländern wie Frankreich und Italien. Auch sie sahen zu große rechtliche und politische Risiken darin, das Geld zweckzuentfremden und entsprechende Garantien zu leisten.

Wie würde sich China verhalten?

Auch einige Ökonomen hatten früh vor einer Nutzung des beschlagnahmten russischen Vermögens gewarnt, nachdem Merz Ende September in einem Gastbeitrag für die britische Wirtschaftszeitung „Financial Times“ öffentlich vorgeprescht war. Zu den Warnern gehörte ZEW-Forscher Heinemann: „Mit der Nutzung der eingefrorenen Vermögen beschädigt man die Reputation der westlichen Reservewährungen“, sagte er gegenüber WELT im Oktober.

Heinemann warf schon damals die Fragen auf: „Wie wird sich die Volksrepublik China für den Fall verhalten, dass sie ihre Taiwan-Planung vorantreibt? Zieht sie dann vorsorglich alle Assets aus dem Euro-Raum ab?“ Bei einem Alleingang, vor allem ohne die Vereinigten Staaten, sei der potenzielle Schaden für den Finanzplatz Europa besonders groß. „Das wäre ein Punktgewinn des Dollar gegenüber dem Euro“, sagte Heinemann damals. Er schlug stattdessen vor, die Darlehen über das EU-Budget abzusichern.

So soll es jetzt passieren. Heinemann begrüßte denn auch die Einigung: „Die Ukraine erhält die unverzichtbaren Mittel für ihren Überlebenskampf und es gibt eine halbwegs faire europäische Lastenteilung“, sagte er. Die Ausfallgarantien würden entsprechend der Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten aufgeteilt. Sprich, Deutschland trägt für den Fall der Fälle den größten Anteil.

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Der Schönheitsfehler aus Heinemanns Sicht ist allerdings, dass dieses Prinzip der fairen Lastenteilung bröckelt, weil Ungarn, die Tschechische Republik und die Slowakei für diese Garantien ausdrücklich ausgenommen wurden. „Das könnte Schule machen unter künftigen populistischen EU-Regierungen.“

Vorgesehen ist, dass die EU-Kommission auf dem Kapitalmarkt Anleihen aufnimmt. Die Anleihen werden über den sogenannten Headroom besichert. Dieser beschreibt bei den EU-Haushalten den Puffer in Milliardenhöhe zwischen der rechtlich von den Staaten erlaubten Ausgabenhöchstgrenze und den tatsächlichen Ausgaben in den jährlichen EU-Haushalten. Dieser Puffer soll nun als Sicherheit für die Geldgeber dienen. Die EU-Kommission reicht den aufgenommenen Kredit dann an die Ukraine weiter.

Da es sich bei der Unterstützung der Ukraine um ein dringendes gemeinsames Interesse der Europäer handele, könne man die Finanzierung über die Europäische Union gut begründen, sagte Fuest. Aus seiner Sicht wäre es aber besser gewesen, zumindest einen Teil der eingefrorenen russischen Aktiva zu verwenden und Russland glaubwürdig zu signalisieren, dass umso mehr verwendet wird, je länger Russland den Krieg weiterführt. Die EU solle sich auf jeden Fall die Option bewahren, das russische Vermögen für die Ukraine zu konfiszieren. Das sei bei eventuellen künftigen Verhandlungen mit Russland ein wichtiges Druckmittel.

Eurobonds wären rechtlich heikel

Inwiefern der vorerst von den Staats- und Regierungschefs gefundene Weg auf eine Vergemeinschaftung der Schulden hinausläuft, ist umstritten. Eurobonds wären rechtlich heikel. Von Seiten der Bundesregierung wurde schon bei den Corona-Hilfen darauf verwiesen, dass Deutschland anders als bei Eurobonds im ⁠Notfall keine gesamtschuldnerische Haftung übernehmen müsse. Beschlossen worden sei schließlich die Absicherung über den EU-Haushalt, für den die Staaten nur anteilig und proportional zu ihrer wirtschaftlichen Stärke geradestehen müssten.

ZEW-Experte Heinemann sieht die Konstruktion zumindest sehr nahe an dem, was man sich in der Schuldenkrise unter Eurobonds vorgestellt hatte. „Es sind Bonds, bei denen über den EU-Haushalt eine indirekte Gemeinschaftshaftung besteht für 24 EU-Mitgliedstaaten“, sagte er. Im ersten Schritt würden bei einem Ausfall zwar die Mitgliedstaaten nach ihrer wirtschaftlichen Stärke zur Kasse gebeten. Wenn aber ein Land nicht zahlen können oder wolle, würden diese weiteren Ausfälle zusätzlich auf die verbleibenden EU-Mitgliedstaaten umgelegt.

Doch auch Heinemann erwartet nicht, dass der Schulden-Deal der EU auf die nationalen Haushalte durchschlagen wird – und damit der deutsche Steuerzahler dafür aufkommen muss. Dafür gebe es Finanztechniken, die zwar zulasten der Transparenz gingen, sich aber schon bei der Rettung Griechenlands bewährt hätten. So könne man die Kredite über viele Jahrzehnte laufen lassen. „Dann wird das Problem weit in die ferne Zukunft verlagert“, sagte Heinemann.

Und die Zinsen? Die Ukraine soll keine Zinsen für die EU-Darlehen zahlen. Die Investoren, die der EU das Geld leihen, verlangen allerdings welche. Aktuell liegen diese bei einer Laufzeit von zehn Jahren bei 3,2 Prozent per annum. Das bedeutet, dass auf den EU-Haushalt durch die neuen Ukraine-Kredite Zinskosten in einer Größenordnung von rund drei Milliarden Euro jährlich zukommen. Das kann als überschaubar angesehen werden. Zum Vergleich: Allein der Bund rechnet 2026 mit Ausgaben für seinen Schuldendienst in Höhe von rund 30 Milliarden Euro.

Trotz Bilanzkosmetik und fehlender Transparenz sind die Kredite aus Heinemanns Sicht „sehr gut angelegtes Geld“. Ein militärischer Zusammenbruch der Ukraine und eine Annexion des Landes durch Russland wäre für Deutschland und die EU um ein Vielfaches teurer.

Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und Business Insider erstellt.

Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik.

Source: welt.de