Missachtete Gefahr: Bürgergeld-Sanktionen treffen Zehntausende Kinder
Während über „faule Bürgergeldempfänger“ gestritten wird, trifft jeder dritte Sanktionsbescheid auch Minderjährige. Was politisch als „Anreiz“ verkauft wird, bedeutet für diese real: weniger Essen, weniger Wärme – und weniger Chancen
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In fast jedem dritten sanktionierten Bürgergeldhaushalt lebt mindestens ein Kind – und genau diese Kinder geraten in der aktuellen Debatte fast vollständig aus dem Blick.
Zum Verständnis: Sobald ein Kind im Haushalt ist, werden Kindergeld und vorhandene Unterhaltszahlungen dem Bürgergeld angerechnet. Das Kind erhält dabei nur den Regelsatz des Bürgergeldes für Heranwachsende. Die Berechnungen haben zugleich Auswirkungen auf den Gesamthaushalt: Unterhalt etwa wird dem Kind bis zur Höhe des Kindergeldes angerechnet – liegt er darüber, wird der Überschuss mit dem Bürgergeld-Anspruch der Eltern verrechnet. Sanktionen verringern hier gleichzeitig das zur Verfügung stehende Geld.
Die neue Grundsicherung plant nun zusätzlich, Mütter vermehrt zur Annahme eines Berufs zu drängen, wenn das Kind ein Jahr alt ist – bisher stand man bis zum 3. Geburtstag unter besonderem Schutz. Dass die Betreuungssituation in vielen Städten dafür nicht gewährleistet ist, scheint den Regierenden egal. Wenn eine alleinerziehende Mutter wegen fehlender Kita-Plätze also keine Stelle annehmen kann, wird ihr das als „Arbeitsverweigerung“ ausgelegt – und das Kind verliert mit ihr. Hinzu kommt: Was ist, wenn ich selbstbestimmt mein Kind drei Jahre erziehen möchte?
Sanktionen treffen somit alle – übrigens auch pflegende Angehörige und Personen mit Pflegebedarf. Besonders schwierig wird es, wenn Menschen mit Long Covid betroffen sind, die beispielsweise das Haus nicht verlassen können und noch keine Diagnostik haben. Die Erkrankungsform wird oft verharmlost, psychologisiert oder sogar geleugnet. Wer hilft Ihnen? Kinder in diesen Haushalten haben es besonders schwer.
Wie Klassismus die Sanktionsmaschine antreibt
Klassismus ist der unsichtbare Motor hinter vielen Sanktionen – auch, wenn Kinder betroffen sind. Die verinnerlichten Vorurteile gegen Armutsbetroffene zeigen sich dabei deutlich in den Online-Kommentarspalten. Dort wird immer wieder infrage gestellt, ob arme Menschen sich ein Kind überhaupt leisten dürfen!
Es werden Stereotype auf die Eltern projiziert, die das gesamte Spektrum der klassistischen Vorurteile abdecken: Sie rauchen, trinken, seien faul und zu unintelligent zum Verhüten. Die absurdeste Behauptung: Arme Menschen bekommen Kinder, damit sie damit Geld vom Staat erhalten und nicht arbeiten müssen. Das bleibt ein hartnäckiger Mythos. Fakt ist: kinderreiche Familien sind eher von Armut bedroht als Singles.
Anstatt sich sachlich mit den Problemen der sanktionierten Eltern auseinanderzusetzen, hagelt es Schuldzuweisungen. Es wird gefordert, die Kinder dem Jugendamt zu übergeben, da die Eltern angeblich „erziehungsunfähig“ wären. Besonders gern wird dem Individuum die Schuld an Armut gegeben. Diese Perspektive wird gefördert durch den Populismus von einigen Politiker*innen. Wenn die Einzelperson schuld für ihre Lage ist, kann ich mich als Regierende*r oder Mitbürger*in aus der Verantwortung ziehen. Es ist einfacher, wenn das Problem beim Individuum liegt, anstatt die Verantwortung von Strukturen zu benennen. Strukturen, die Armut erschaffen, fördern und beibehalten wollen.
Armut ist politisch gewollt. Sie erfüllt den Zweck der Abschreckung und befeuert gleichzeitig Abstiegsängste: Menschen sind so eher bereit, einen noch so schlimmen Job anzunehmen, um nicht in Armut zu landen. Armut ist ein Schreckgespenst. Niemand möchte gern mit ihr zu tun haben. Das Wegsehen ist einfacher als das Hinterfragen. Und so halten sich Mythen über Armutsbetroffene und deren Lebensrealitäten hartnäckig.
Strukturelle Benachteiligung ist real: Das Bildungssystem ist gefordert!
Ich habe es satt, dass Menschen selbst dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie in einem armutsbetroffenen oder gewalttätigen Umfeld aufgewachsen sind. Gewalt in der Familie betrifft jeden dritten Haushalt in Deutschland. Die Kinder, die so aufwachsen, haben es viel schwerer als ihre Mitschüler*innen. Kommt dann noch Rassismus hinzu, greift im Bildungssystem ebenso institutionelle Diskriminierung, die viele Mitbürger*innen gar nicht bemerken.
Kinder aus Haushalten, die von Gewalt geprägt sind, die arm sind oder einen Migrationshintergrund haben, sind strukturell benachteiligt. Sie haben weniger Chancen im Leben. Den Kindern oder ihren Familien die Schuld daran zu geben, ist unsozial und ungerecht. Hier ist unser Bildungssystem gefordert!
Auch der aktuelle UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland zeigt dringenden Handlungsbedarf: Demnach können grundlegende Bedürfnisse von einer Million Kindern nicht erfüllt werden – sie haben weder ausreichend beheizte Wohnungen, warme Mahlzeiten, noch die Möglichkeit, alte Kleidung zu ersetzen. Mindestens 130.000 Kinder sind dazu wohnungslos und in kommunalen Unterkünften untergebracht.
Durch die kommende Grundsicherung werden noch mehr Familien von Obdachlosigkeit bedroht sein. Unsere Regierenden sollten sich dafür in Grund und Boden schämen! Sie müssen endlich anerkennen, dass Sanktionen Kinder direkt gefährden – und sie abschaffen, statt sie auszuweiten.