Miranda Julys „Auf allen vieren“: Vom Mythos jener Wechseljahre
Manche Wörter haben den Klang von Damoklesschwertern. Zu ihnen gehört das Wort „Wechseljahre“. Es klingt nach Hitzewallungen, Stimmungsschwankungen, grauen Haaren und sexueller Unlust, nach weiblichem Unsichtbarwerden, und es schüchtert die meisten Frauen um die 40 nachhaltig ein. Eines Tages wird dieses Schwert auf sie niedersausen – und vorbei ist das lustige Leben. Mit diesen Klischees über die Veränderung im Leben der Frau ab der Lebensmitte spielt Miranda Julys zweiter Roman Auf allen vieren. Die Wechseljahre sind ein zentrales Thema, oder, genauer gesagt, ein Mythos, den die Erzählerin Kapitel für Kapitel dekonstruiert.
Überhaupt, der Sex!
Miranda July, 1974 als Tochter eines Schriftstellerehepaars geboren, ist spätestens seit ihrem Film Ich und Du und alle, die wir kennen nicht nur in den USA, sondern auch in Europa eine ästhetische und intellektuelle Ikone ihrer Generation. Der Film, der ihr 2005 in Cannes eine Goldene Palme einbrachte, ihre Erzählungen Zehn Wahrheiten, ihre Interviews in Es findet dich und ihr erster Roman Der erste fiese Typ, der das skurrile Sexleben einer Vierzigjährigen erzählt, haben in Verbindung mit den Performances der Künstlerin in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein zeitdiagnostisches Werk entstehen lassen, das die gesellschaftlichen Veränderungen innerhalb der US-amerikanischen Kreativen- und Intellektuellenszene zutage treten lässt. Julys sanfte Abgründigkeit, ihr trockener Humor, ihr prätendiert naiver, dabei zugleich subtil analytischer Blick kaschieren beinahe perfekt, wie scharf das Sezierbesteck dieser Künstlerin tatsächlich schneidet.
Auf allen vieren beginnt wie ein Krimi. Ein Mann mit einem Teleobjektiv hat die 45-jährige Ich-Erzählerin, eine mittelmäßig erfolgreiche Künstlerin, in ihrem Haus in Los Angeles ohne deren Zustimmung fotografiert. Ein Nachbar, der den Vorgang beobachtet hat, bietet an, den Mann ausfindig zu machen. Doch dieser Strang der Handlung führt auf eine falsche Fährte, denn Auf allen vieren biegt schnell in eine andere Richtung ab.
Diese Momente des kunstvollen Ab- und Umschwenkens nutzt July immer wieder, um zu zeigen, wie Erwartungen entstehen und enttäuscht werden, es geht hier zu wie in unser aller echtem Leben, in dem hochfliegend ersonnene Pläne oft unsanft auf den harten Boden der Realität plumpsen.
Die Ich-Erzählerin, Mitte Vierzig, die eine gewisse Verwandtschaft zu ihrer Schöpferin vermuten lässt, da sie wie July ebenfalls Künstlerin und Mutter eines nichtbinären Kindes ist, führt eine etwas eingeschlafene Beziehung zu dem Produzenten Harris. Sie kokettiert ein wenig mit ihrer Persönlichkeit: „Ich war dreißig gewesen, als Harris und ich uns kennengelernt hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich immerhin gut genug gekannt, um zu wissen, dass sich niemand Bewundernswertes auf einen so abwegigen Menschen wie mich festlegen würde.“ Nun hat sie 20.000 Dollar für eine Auftragsarbeit bekommen. Und sie hat Großes damit vor. Sie will Urlaub vom Alltag als Mutter und Partnerin machen. Denn die Beziehung ist längst nicht mehr das, was sie einmal war, zwar ganz okay, aber eben auch etwas wurschtig, leicht verstaubt. Womöglich passen die Erzählerin und Harris aber auch gar nicht so gut zusammen, obwohl sie seit vielen Jahren ein Paar sind. Also raus aus dem Haus, ab durch die Mitte. Die Devise der Reise heckt die Erzählerin mit ihrer Freundin Jordi aus, die weiß, was mit dem Honorar zu tun ist: „Gib es für Schönheit aus!“
Weit kommt die Erzählerin nicht, sie landet in der kalifornischen Kleinstadt Monrovia. Dort verliebt sie sich in den 14 Jahre jüngeren Davey, den sie zufällig in der Autovermietung trifft. Sie bleibt und lässt sich von einer Innenarchitektin, die sich als Daveys Frau entpuppt, ihr Motelzimmer zu einem exquisiten Refugium ausstaffieren. Für die Umgestaltung geht das gesamte Geld drauf. Sie beginnt eine schüchterne Liaison mit Davey, die so ganz anders verläuft, als sie es sich anfangs erhofft, und abrupt endet. Traurig wieder daheim angelangt, verstrickt sie sich gegenüber ihrer Familie in ein Lügennetz. Eine Notlüge macht das Feld auf für eines der zentralen Themen des Romans. Nach der Trennung von Davey und ihrer Rückkehr nach Hause greift die Erzählerin zu diesem Schwindel, um Harris ihre andauernde Traurigkeit zu erklären: „Ich komm in die Wechseljahre.“
Das Leben der Künstlerin, das zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon aus den Fugen ist, bekommt dadurch eine weitere drastische Wendung. Julys Protagonistin beginnt über die Wechseljahre in einer Weise nachzudenken, die für Leserinnen dieses Alters das ermüdende und langweilige Lesen von Ratgeberliteratur so gut wie überflüssig werden lässt. Ihr Roman räumt mit Mythen zum Thema rigoros auf. Ohne didaktische Absicht oder Wahrheitsanspruch zerlegt er, in welcher Weise ein noch immer vergleichsweise wenig erforschtes medizinisches Thema verhandelt wird und wie der öffentliche Diskurs Verhalten und Denken lenkt und steuert – oder eben nicht.
Als Julys Protagonistin zum Thema eine ganze Reihe von Frauen befragt, lernt man, dass Offenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber diesem Phänomen auch ganz andere als physische und psychische Verfallserfahrungen möglich machen. Durch den Fakt, nicht mehr schwanger werden zu können, tun sich dann ganz neue Möglichkeiten auf, zum Beispiel die eines freieren Sexlebens. Und so ist es extrem entlastend, Sätze wie diese zu lesen: „Man konnte sich immer wieder neu ausrichten auf diese Weise, durch Intimitäten, und dem Altsein zwar nicht direkt entkommen, aber dem Verrückten, einfach nur Schrägen daran die eigene Verrücktheit und Schrägheit entgegensetzen.“
Überhaupt der Sex: Dem Schildern weiblichen Begehrens und der entsprechenden Praxis wird in Auf allen vieren ein hoher Stellenwert eingeräumt. Nichts ist hier zimperlich oder prüde, wodurch Julys Roman sich auch einreiht in eine Tradition des Nachdenkens über weibliches Begehren, die von Colette zu Anaïs Nin, Erica Jong oder Catherine Millet reicht, wobei die Ungeschütztheit und Genauigkeit des Blicks das Abgleiten ins Pornografische drosseln. Provokativ ist Auf allen vieren aber allemal. „Ich will Sie ja nicht beunruhigen“ lautet sein erster Satz, der sich auf den Mann mit dem Teleobjektiv bezieht, über den im Laufe des Romans natürlich doch noch etwas erzählt wird. Die Beunruhigung gelingt in solcher Leichtigkeit, dass man sich ihrer erkenntnisfördernden Energie getrost aussetzen sollte.
Auf allen vieren Miranda July Stefanie Jacobs (Übers.), Kiepenheuer & Witsch 2024, 416 S., 25 €