Minderheitsregierung in Thüringen: Eine Regierung ohne Mehrheit?

Die Landtagswahl in Thüringen hat am Sonntag die AfD als klaren Wahlsieger hervorgebracht, mit ihr will jedoch keine der anderen Parteien regieren. Die Regierungsbildung gestaltet sich schwierig, auch weil die CDU als zweitstärkste Kraft nicht mit der Linken arbeiten will. Schon am Wahlabend stellten erste Politiker deshalb die Option einer Minderheitsregierung in den Raum – mit geteiltem Echo.

Schon seit 2020 wird Thüringen von einer Minderheitsregierung regiert. Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat keine eigene Mehrheit. Die Regierungsparteien Linke, SPD und Grüne sind für Mehrheitsbeschlüsse im Landtag auf Stimmen aus anderen Parteien angewiesen, vor allem der CDU. Minderheitsregierungen sind in Deutschland eher ungewöhnlich. Wie funktioniert eine Minderheitsregierung? Wie könnte es in Thüringen weitergehen? Und welche Erfahrungen gibt es damit in Deutschland? Ein Überblick

Was ist eine Minderheitsregierung?

Aus deutscher Sicht klingt das Wort Minderheitsregierung zunächst wie ein Widerspruch. In Deutschland regieren Parteien in den meisten Fällen alleine oder in Koalitionen, die eine parlamentarische Mehrheit stellen, also die Mehrheit der Abgeordneten in einem Parlament hinter sich vereinen. Minderheitsregierungen
„werden nur von einer parlamentarischen Minderheit getragen und sind
bei allen Abstimmungen auf zusätzliche Unterstützung anderer
Parlamentsmitglieder angewiesen“, heißt es dagegen im Politiklexikon von Klaus Schubert und Martina Klein, das die Bundeszentrale für politische Bildung zitiert

Einzelne Parteien und Parteienkoalitionen, die regieren wollen, müssen also nicht unbedingt die Mehrheit im Parlament haben – auch in Deutschland nicht. Um Gesetze oder auch den Haushalt im Parlament zu beschließen, brauchen sie aber eine Mehrheit der Abgeordnetenstimmen. Deswegen sind Minderheitsregierungen auf die Unterstützung anderer Parteien oder Abgeordneter angewiesen. Dafür handeln die Regierungsparteien Abmachungen aus, um von anderen Parteien geduldet zu werden – und relativ sicher deren Zustimmung zu ihren Vorhaben zu bekommen. Im Gegenzug gehen sie in ihren Regierungsvorhaben Kompromisse ein. Die Minderheitsregierung kann für ihre Vorhaben mit unterschiedlichen Parteien sprechen.

Im Gegensatz zur Minderheitsregierung hat die Mehrheitsregierung – wie das Wort schon sagt – eine eigene absolute Mehrheit von mehr als der Hälfte an Abgeordneten im Parlament und stellt auf dieser Basis die Regierung.


Bei der Unterzeichnung des gemeinsamen Regierungsvertrags für eine Minderheitsregierung im Jahr 2020 in Thüringen (von links nach rechts): Bernhard Stengele, Dirk Adams und Ann-Sophie Bohm-Eisenbrandt (alle Grüne), Bodo Ramelow und Susanne Hennig-Wellsow (beide Linke), Wolfgang Tiefensee und Matthias Hey (beide SPD)

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Warum hat Thüringen seit 2020 eine Minderheitsregierung?

Die Linke in Thüringen wurde bei der Landtagswahl im Oktober 2019 stärkste
Kraft, die rot-rot-grüne Regierung verlor aber ihre absolute Mehrheit.
Linke, SPD und Grüne wollten – auch mangels alternativer realistischer
Regierungskoalitionen – trotzdem weiter zusammen regieren und planten eine Minderheitsregierung mit Ministerpräsident Bodo Ramelow an der Spitze. CDU und FDP lehnten zwar eine offizielle Duldung der Minderheitsregierung ab, wollten aber in Sachthemen zusammenarbeiten. Linke, SPD und Grüne vereinbarten einen Regierungsvertrag, die Parteien stimmten zu. Die CDU meldete Bedenken an, die Wahl zum Ministerpräsidenten einer Minderheitsregierung sei nicht ausreichend in der Verfassung geregelt – ein Problem, das 2024 in Bezug auf den AfD-Spitzenkandidaten Björn Höcke wieder aufkam.

Direkt
vereidigt wurde die Minderheitsregierung im Landtag im Februar 2020
dann erst einmal nicht: Nachdem Ramelow als Ministerpräsidentenkandidat
in den ersten zwei Wahlgängen keine absolute Mehrheit bekommen hatte,
stellte sich FDP-Spitzenkandidat Thomas Kemmerich im dritten Wahlgang
als Gegenkandidat auf – und wurde von FDP und CDU mithilfe der AfD
gewählt. Viele bezeichneten den Vorgang als „Dammbruch“. Nach Protesten trat Kemmerich schon am 8. Februar wieder zurück und blieb nur noch knapp einen Monat kommissarisch im Amt

Im
März schließlich wählten die Thüringer Abgeordneten Ramelow und seine
rot-rot-grüne Minderheitsregierung zum Ministerpräsidenten. Die CDU
stimmte einer Stabilitätsvereinbarung mit der Regierung zu. Doch im
September 2021 arbeiteten CDU und FDP erneut gegen sie und
verabschiedeten mit den Stimmen der AfD eine Gesetzesänderung in
Thüringen. Der Antrag, der wichtig genug war, um das Tabu noch einmal zu brechen, war eine Gewerbesteuersenkung in Thüringen
von 6,5 auf 5 Prozent. Eine Regierung bilden wollten CDU und FDP mit
der AfD aber offenbar doch nicht. Die rot-rot-grüne Minderheitsregierung
blieb im Amt.

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Wie könnte eine Minderheitsregierung nach der Landtagswahl aussehen?

Die Landtagswahl in Thüringen hat am Sonntag unklare Mehrheitsverhältnisse geschaffen. Sicher ist jedoch: Die derzeitige Minderheitsregierung unter Ramelow wird nicht weitermachen können. 

Dem vorläufigen Ergebnis des Landeswahlleiters zufolge hat die AfD die Wahl mit 32,8 Prozent der Stimmen noch deutlicher gewonnen als erwartet und wird mit 32 von 88 Sitzen im Landtag vertreten sein. Damit stellt sie eine Sperrminorität und kann Entscheidungen, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern, blockieren. Die CDU ist im neuen Thüringer Landtag mit 23,6 Prozent zweitstärkste Kraft und besetzt 23 Sitze, das BSW erhält mit 15,8 Prozent 15 Sitze. Die Linke verlor deutlich und wird mit 13,1 Prozent nur noch 12 Sitze haben, die SPD mit 6,1 Prozent noch 6 Sitze. Grüne und FDP sind nicht mehr im Landtag vertreten, auch Fraktionslose gibt es keine mehr.

Alle demokratischen Parteien haben nach der Wahl bekräftigt, dass sie nicht mit der AfD koalieren wollen. Sowohl der CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt als auch die BSW-Spitzenkandidatin Katja Wolf lehnten eine Zusammenarbeit mit der von Björn Höcke geführten AfD ab. Auch Ramelow und Georg Maier (SPD) wollen nicht mit der rechtsextremen Thüringer AfD arbeiten. Um eine Mehrheitsregierung zu bilden, müssten sich aber mindestens CDU und BSW einigen – und die Linke. Denn für die zuvor als einzige potenziell mögliche Option angesehene Koalition aus CDU, BSW und SPD gibt es nach der Wahl nun keine Mehrheit im Parlament. Die CDU hat jedoch einen Unvereinbarkeitsbeschluss zur Linkspartei und will deshalb mit ihr nicht zusammenarbeiten.

Schon am Wahlabend wurde deshalb die Option einer Minderheitsregierung andiskutiert. Die CDU erhob Anspruch auf die Regierungsbildung in Thüringen. Dieser Forderung schlossen sich die anderen Parteien – außer der AfD – auch weitgehend an. Voigt verwies schon nach Verkündung der Ergebnisse darauf, dass Thüringen bereits seit fünf Jahren von einer Minderheitsregierung geführt werde, und kündigte an, mit BSW und SPD sprechen zu wollen. Das BSW sieht die Option einer Minderheitsregierung dagegen skeptisch: Man müsse ausloten, was in Thüringen sonst möglich sei. Das BSW hat der Linken noch keine Absage erteilt. Ramelow verwies darauf, dass seine Erfahrung mit der Minderheitsregierung in Thüringen vor allem „harte Arbeit“ gewesen sei. Die Thüringer Linke schloss jedoch nicht aus, eine CDU-geführte Minderheitsregierung zu tolerieren. Es gehe um die Bekämpfung des Faschismus, sagte Ramelow.

Ob die CDU sich darauf einlassen würde, ist noch offen. Da die CDU wenigstens zeitweise bereits eine Linke-geführte Regierung unter Ramelow toleriert hatte, könnte dies eine durchaus realistische Option sein. Die Frage ist nur, ob eine solche Vereinbarung stabiler sein kann als die vorherige, die die CDU ihrerseits gegen Ende der Legislatur praktisch aufgekündigt und lieber mit FDP und AfD gearbeitet hatte.

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Welche Minderheitsregierungen gibt es aktuell noch?

In Deutschland gibt es aktuell nur die Minderheitsregierung in Thüringen. Sie ist die erste des Landes seit der Gründung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg.

Außerhalb Deutschlands sind Minderheitsregierungen verbreiteter. Begünstigt werden sie durch das Verhältniswahlrecht, weil Parteien dann trotz eines geringen Stimmenanteils im Parlament vertreten sein können. In Skandinavien ist die Minderheitsregierung beispielsweise der Normalfall. Dänemark, Norwegen und Schweden wurden und werden die meiste Zeit ihrer demokratischen Geschichte von Minderheitsregierungen regiert. Oft trägt auch die Zersplitterung der Parteien dazu bei, so wie in Dänemark. In der Regel gibt es dort feste Vereinbarungen mit anderen Parteien, sodass die Regierung trotz ihrer Parlamentsminderheit stabil ist.

Auch in Portugal gibt es häufig Minderheitsregierungen, die meisten wurden bisher von der sozialistischen Partei gebildet. Aktuell regiert jedoch die konservative Partei auf Basis einer Minderheit im Parlament. In Spanien sind Minderheitsregierungen dagegen nur auf kommunaler und regionaler Ebene häufig. In der Slowakei gab es einige Minderheitsregierungen, diese sind jedoch zumeist durch das Ausscheiden einer Partei aus der Regierungskoalition entstanden. Aktuell regiert Ministerpräsident Robert Fico aber mit einer Mehrheit. Vereinzelt kamen und kommen Minderheitsregierungen auch in anderen demokratisch regierten Ländern vor.

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Welche Minderheitsregierungen gab es in Deutschland?

Tatsächlich gab es auch in der Bundesrepublik Deutschland schon vor der aktuellen rot-rot-grünen Regierung in Thüringen Minderheitsregierungen – und zwar genau 31. Das geht aus einer Veröffentlichung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags hervor (PDF). Auf Bundesebene gab es diese Regierungsform demnach allerdings deutlich seltener, nämlich viermal, als auf Länderebene, wo immerhin schon 27 Minderheitsregierungen gebildet wurden.

Gerade auf Bundesebene entstanden Minderheitsregierungen demnach zumeist wegen des Rückzugs eines der Koalitionspartner. Sie hielten nur für kurze Zeit. Viermal verloren Koalitionsregierungen auf Bundesebene ihre Mehrheit, schlüsseln die Wissenschaftlichen Dienste auf: 1962, weil sich die FDP aus dem Bundeskabinett des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer (CDU) zurückzog. 1966, weil die FDP das Kabinett des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard (CDU) verließ. 1972, weil einige Abgeordnete ihre Fraktion wechselten. Und 1982, nach der Entlassung der FDP-Minister aus dem Kabinett von Helmut Schmidt (SPD).

Auf Landesebene gab es nach Angaben der Wissenschaftlichen Dienste schon in neun Bundesländern Minderheitsregierungen vor Thüringen: in Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Berlin, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und im Saarland. Auf Landesebene waren diese Minderheitsregierungen demnach viel länger an der Macht als auf Bundesebene, nämlich durchschnittlich 333 Tage.

Die Minderheitsregierungen waren in den meisten Fällen unfreiwillig: 13-mal schieden Koalitionspartner aus dem jeweiligen Bündnis aus, und viermal wechselten Abgeordnete aus der Regierungsfraktion heraus, sodass eine Minderheitsregierung entstand, wie die Wissenschaftlichen Dienste schreiben. Zwölfmal fehlte zudem nach Neuwahlen eine Mehrheit. Nur siebenmal bildeten Parteien bewusst eine Minderheitsregierung, weil eine andere Fraktion deren Tolerierung zusagte.

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Warum sind Minderheitsregierungen in Deutschland unbeliebt?

In Deutschland sind Minderheitsregierungen generell unbeliebt, weil sie für viele Wählerinnen und Wähler Instabilität suggerieren. Das könnte auch an der Geschichte der Bundesrepublik liegen: In der Weimarer Republik scheiterten mehrere tolerierte Minderheitsregierungen auf Reichsebene; die Instabilität wurde unter anderem als Faktor für die darauffolgende Zerstörung der Demokratie durch den Nationalsozialismus gesehen.

Die jüngsten Beispiele für stabile Minderheitsregierungen in Deutschland
finden sich auf Landesebene: Zwischen 2010 und 2012 regierte
in Nordrhein-Westfalen die SPD-Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft mit einer rot-grünen Minderheitsregierung. Die
Minderheitsregierung von SPD-Ministerpräsident Reinhard Höppner in
Sachsen-Anhalt zwischen 1994 und 2002 hielt acht Jahre und bekam dafür
sogar einen eigenen Namen: Magdeburger Modell. Die SPD regierte – in den
ersten vier Jahren noch mit den Grünen – ohne eigene Mehrheit, jedoch
verlässlich toleriert von der PDS.

Immer wieder gibt es jedoch auch hierzulande Diskussionen um mögliche Minderheitsregierungen. So etwa nach der Bundestagswahl 2021: Eine große Koalition aus SPD und CDU/CSU hätte nach der Wahl eine eigene Mehrheit gehabt, war aber zunehmend unbeliebt. Nicht nur der Politikwissenschaftler Michael Koß brachte Minderheitsregierungen von CDU und FDP oder SPD und Grünen ins Spiel – den Parteien also, die inhaltlich eine relativ große Schnittmenge hatten. Schließlich taten sich SPD, Grüne und FDP zu einer Mehrheit zusammen und bildeten die amtierende Ampelkoalition.

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Welche Geschichte hat Thüringen mit Minderheitsregierungen?

1924, vor genau 100 Jahren also, gab es die erste von Rechtsextremen gestützte Minderheitsregierung in der deutschen Geschichte, und das ausgerechnet in Thüringen: 1923 ließ der damalige SPD-Reichskanzler die Einheitsfrontregierung der Thüringer SPD mit der Kommunistischen Partei auflösen und Neuwahlen ansetzen. 1924 gewann dann der sogenannte Thüringer Ordnungsbund, ein Bündnis aus Deutschnationaler Volkspartei (DNVP), Deutscher Volkspartei (DVP) und Thüringer
Landbund (ThLB), die Wahlen

Weil er allerdings alleine keine Mehrheit hatte, ließ er sich von der Vereinigten Völkischen Liste tolerieren – die eine Nachfolgeorganisation der
zu diesem Zeitpunkt gerade verbotenen NSDAP war. Diese gewann nämlich überraschend an Zustimmung – und war dem Ordnungsbund trotz Warnungen offenbar lieber als die Sozialdemokraten. 1930 bildeten die Konservativen dann in Thüringen zum ersten Mal im demokratischen Deutschland eine Landesregierung mit den Nationalsozialisten – einer der ersten Schritte Hitlers und der NSDAP, an die Macht zu kommen und die Demokratie in Deutschland zu vernichten.

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