Millionen Euro verschwunden – wie türkische Telefonbetrüger deutsche Senioren abzocken
Ihre Masche ist so einfach wie effizient: Die Opfer werden einer Gehirnwäsche unterzogen. Und niemand kann sich vor den Betrügern sicher wähnen, wie ein Fall aus dem Hamburger Stadtteil Blankenese zeigt.
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit und gegen das manchmal sehr eitle Selbstverständnis, noch Herr über die eigenen Wahrnehmungen zu sein. „Aber irgendwann trifft man bei den Leuten dann doch einen Punkt. Weil das, was ich beschreibe, genau das ist, was sie gerade erleben. Und dann kommt unweigerlich die Frage auf: Hat sie vielleicht doch recht?“ Dann würde es rattern und rattern, „und ihnen wird schmerzlich klar, was sie schon alles verloren haben“.
Anfang August im feinen Hamburger Stadtteil Blankenese: Ein älterer Herr betritt die Filiale der Deutschen Bank am S-Bahnhof. Der langjährige Kunde ist Unternehmer, man kennt sich. 13.000 Euro will der 82-Jährige abheben. Ein ungewöhnlich hoher Betrag, selbst für den vermögenden Pensionär. Der Bankmitarbeiter plaudert, fragt nach dem Hintergrund und löst damit Ermittlungen aus, die nur wenig später in der Festnahme eines 17-Jährigen und dessen 21-jährigen Begleiter gipfeln. Der Senior aber steht dennoch vor einem Scherbenhaufen.
Der Fall ist ein Lehrstück über die Perfidität moderner Telefonbetrüger, die mit ihrer Betrugsmasche bereits Hunderte um ihr Vermögen gebracht haben. Der Blankeneser war bereits seit Wochen in den Fängen einer Bande, deren Ausprägungen als Callcenter-Mafia bezeichnet werden. Zahlreiche solcher Gruppen gibt es, die der Organisierten Kriminalität zugerechnet werden und die weitestgehend unbehelligt von der Türkei aus operieren.
420 Fälle von Callcenter-Betrug, vollendete und versuchte, registrierte das Landeskriminalamt der Hamburger Polizei im vergangenen Jahr. Viele Fälle dürften zudem aus Scham nicht angezeigt worden sein. In 40 Fällen erbeuteten die Täter Geld, Gold oder andere Wertsachen. Die Schadensumme belief sich auf mehr als zwei Millionen Euro. Im Durchschnitt verlor also jedes Opfer mindestens 50.000 Euro. Im ersten Halbjahr 2025 wurden 150 Fälle bekannt, bei denen rund 1,2 Millionen Euro in Richtung Türkei verschwanden.
Bargeld aus dem Fenster geworfen
Es gibt Fälle, in denen Opfer in wenigen Stunden alles verlieren, und Fälle, in denen Opfer und Täter über Wochen Kontakt haben, noch im Urlaub telefonieren – und dann ist ebenfalls alles weg. Es gibt Opfer, die ihr Haus verkaufen, Bankschließfächer plündern, Goldreserven auflösen, Zehntausende Euro, Hunderttausende Euro aus dem Fenster werfen, auf Autoraststätten auf der Toilette ablegen, auf einem Spielplatz unter der Rutsche vergraben, in einen Kochtopf legen und vor der Haustür abstellen. Das alles ist keine Fiktion, sondern Realität.
Callcenter-Betrug basiert stets auf einer Grundgeschichte. Sie ist einfach, aber variabel, wird auf das jeweilige Opfer angepasst. Mit ihr werden die Spielregeln von Gut und Böse über einen Haufen gewischt, das Opfer einer Gehirnwäsche unterzogen, wie es die Geprellten selbst häufig beschreiben.
Die Tat beginnt mit einem Anruf, über Festnetz, eine Hamburger Telefonnummer, auf den ersten Blick vielleicht eine Behördennummer, sagt die Ermittlerin im Hamburger Landeskriminalamt. Sie kennt Hunderte solcher Anrufe. Sie ist die Chefermittlerin. Weder ihr Name noch ihre Dienststelle sollen bekannt werden, auch das Opfer muss anonym bleiben. Es wären Informationen, die es den Tätern ermöglichen würden, ihre Geschichten noch sorgfältiger und perfider auszuspinnen. „Der Anrufer stellt sich dann freundlich als Kriminalbeamter vor, vielleicht auch als Staatsanwalt, mahnt zur Eile.“
Einbrecher wurden festgenommen, heiße es, bei ihnen eine Liste mit Namen gefunden. Darauf sei auch der Name des Angerufenen. Aber nicht nur das, man habe bereits ermittelt, dass auch Polizisten, Staatsanwälte und Bankmitarbeiter mit den Einbrechern unter einer Decke steckten. Das bedeute: Nicht nur Geld und andere Werte im Haus sind in Gefahr, sondern gleich das gesamte Vermögen.
Skizziert wird die große Verschwörung, bei der es nur wenige vermeintlich Gute im bösen Spiel gibt. Der einzig mögliche Ausweg: Der Angerufene müsse so schnell wie möglich Bargeld, Gold oder Schmuck zusammentragen und zur Sicherheit übergeben – bis die geheimen Ermittlungen, deren Teil er jetzt sei, abgeschlossen seien und die Täter hinter Gittern sitzen.
Auch der 82-Jährige hat einige Wochen zuvor einen solchen Anruf erhalten. Und ihn ernst genommen. Wie sich später herausstellt, sollten die 13.000 Euro übergeben zu werden, um sie den Fängen von Einbrechern und korrumpierten Beamten zu entziehen. Und es hatte bereits vorherige Übergaben gegeben.
„Die Geschädigten werden extrem unter Druck gesetzt”, sagt die Ermittlerin, „Dass die Bösen selbst am Telefon sitzen, erkennen nur wenige angesichts des Schocks, den die Gespräche hinterlassen. Die Masche ist einfach, aber erfolgreich, weil die Täter enormen psychologischen Druck aufbauen, indem sie gezielt Ängste ausspielen. Das perfideste Instrument der Täter sei die Schweigepflicht, sagt die Ermittlerin. „Den Opfern wird erklärt, dass sie mit niemandem darüber reden dürften, weil sie sich sonst strafbar machten.” Ziel sei, das Opfer zu isolieren, auch von Familie und Freunden. „Und das ist der Punkt, an dem wir die Opfer knacken müssen.“
Die Bargeldsumme war ungewöhnlich hoch
Im Fall des 82-Jährigen ist sie binnen 20 Minuten vor Ort, löst eine Zivilfahnderin vom nahen Polizeirevier ab, die in die Bank geeilt war, nachdem sich der Bankangestellte gemeldet hatte. „Das Gespür des Bankmitarbeiters war für uns natürlich ein Glücksfall“, sagt sie rückblickend. „Er empfand die Bargeldsumme als ungewöhnlich hoch. Der Senior sei zudem nervös gewesen und habe erklärt, dass er das Geld für einen Unfall benötige.“ Anzeichen dafür, dass der Mann in einen Betrugsfall involviert war. Mittlerweile werden Bankmitarbeiter gezielt darauf geschult.
In einem Besprechungsraum trifft sie auf den 82-Jährigen. Doch er macht dicht, reagiert abweisend, verweigert das Gespräch. Er hält sie für korrumpiert. Wie weit diese Abwehrhaltung gehen kann, erfuhren 2018 Polizisten in Hessen, als ein 90-Jähriger auf sie schoss, weil er durch die Callcenter-Mafia völlig verängstigt war und die Polizisten für Einbrecher hielt.
Der 82-Jährige geht, verzichtet immerhin darauf, die 13.000 Euro mitzunehmen. Dann beginnt für die Ermittler der schwierigste Teil. „Wir mussten davon ausgehen, dass er versuchen würde, noch mehr aus seinem Besitz herauszugeben, zumal wir jetzt auch Kontakt gehabt hatten und er uns für seine Gegner hielt.“ Allerdings sind die Polizisten diesmal nah an ihm dran, verfolgen, wie er ein weiteres Geldinstitut ansteuert, bei der er weitere Konten unterhält. Die Ermittlerin startet einen neuen Versuch, fängt ihn in der Bank ab. „Fangen wir nochmal bei Null an“, sagt sie zu ihm.
Es gelingt ihr schließlich, ihn aus seinem Kokon zu holen, ihn zu knacken. „Aufgrund meiner Erfahrung konnte ich ihm ziemlich genau sagen, was bei ihm in den letzten Wochen passiert ist.“ Es ist der Punkt, an dem bei dem 82-Jährigen ein Umdenken einsetzt. Die Ermittlerin hat Zugang zu ihm gefunden. Das Erwachen ist für ihn schmerzlich.
Gemeinsam fahren sie zum Haus des Mannes. Dort klingelt schon das Telefon. „Der Druck ist unerbittlich“, sagt die Ermittlerin. Sie wollen alles ganz genau wissen: Wie es abgelaufen ist, mit wem er gesprochen hat, warum er das Geld nicht mitgebracht hat, welche Fragen die Bank hatte.
Anrufer sitzen Hunderte Kilometer entfernt
Die Anrufer sitzen nicht in Hamburg, sondern Hunderte Kilometer entfernt. Um eine Hamburger Nummer zu imitieren, benutzen sie technische Lösungen wie Call-ID-Spoofing. Dabei wird die auf dem Telefon des Opfers angezeigte Rufnummer digital manipuliert, sodass eine beliebige Ortsvorwahl, wie 040 für Hamburg, erscheint, obwohl der Anruf tatsächlich von ganz woanders erfolgt.
„Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass nur sehr wohlhabende Menschen Opfer werden“, sagt die Ermittlerin. „Die Betrüger telefonieren sich durch Adresslisten und erkennen erst im Gespräch, ob sich ein Anruf für sie lohnt.“ Die Nummern stammen aus alten Telefonbüchern oder sogenannten Phone number dumps, die im Darknet gehandelt werden.
Die Anrufer arbeiteten, so haben es durchermittelte Fälle gezeigt, sehr häufig von der Türkei aus, in kleinen Teams. Bei einer Razzia sollen die Täter mal in Badehose in einem Hotelzimmer aufgescheucht worden sein. Die Struktur sei dennoch „hochprofessionell“, heißt es aus dem LKA: „Der sogenannte Keiler telefoniert permanent Festnetznummern in Deutschland ab.“ Hat er ein Opfer am Haken, übernimmt ein „Hauptkommissar“ oder „Oberstaatsanwalt“.
In Hamburg schnappt daraufhin die Falle zu. Sind sich die Täter sicher, dass das Bargeld oder das Gold wirklich bereitliegt – wofür sie ausgeklügelte Methoden entwickelt haben, etwa indem sie sich die Seriennummern der Geldscheine oder die Gusserstempel auf Goldbarren vorlesen lassen – kündigen sie einen Abholer an.
In Blankenese wird sich drei Stunden später ein 17-Jähriger am Tor melden. Begleitet wird er von einem 21-Jährigen, der sich in einer Seitenstraße herumdrückt. Drei Stunden Fahrt haben sie hinter sich, von Nordrhein-Westfalen nach Hamburg. Sie werden festgenommen, sitzen aktuell in U-Haft. „Wir hatten schon Abholer, die eine Rundreise durch das Bundesgebiet gestartet haben“, sagt die Ermittlerin. Wie sie von den Hintermännern in der Türkei rekrutiert werden, ist nicht immer klar. Einige haben bereits eine kriminelle Karriere, andere sind „unbeschriebene Blätter“. Es gab Fälle, in denen ahnungslose Kurierfahrer beauftragt wurden.
„Was übergeben wurde, wird sofort zu Geld gemacht“
Was einmal übergeben wurde, ist meist für immer verloren, sagen die Ermittler, so ist es auch im Fall des 82-Jährigen. Das sei die bittere Wahrheit, die am Ende warte. „Was übergeben wurde, wird sofort weitergegeben, zu Geld gemacht und in die Türkei gebracht. Die Abnehmer dort seien meist schon aus Deutschland strafrechtlich bekannt, heißt es. Eine Auswertung des LKA Nordrhein-Westfalen von 9000 Fällen aus 2017 ergab, dass unter den Tätern Rocker der Hells Angels und Mitglieder einer polizeibekannten Großfamilie waren.
Deutsche und türkische Behörden arbeiten seit vielen Jahren gemeinsam daran, an die Hintermänner heranzukommen. Das setzt komplexe länderübergreifende Ermittlungen unter höchster Geheimhaltung voraus. Zuletzt gelang 2022 ein Schlag gegen eine international agierende Bande von Telefonbetrügern. 30 Personen wurden in Callcentern festgenommen, insbesondere in der türkischen Provinz Mersin und Vermögenswerte von umgerechnet fast 1,6 Millionen Euro sichergestellt.
Laut einer Auswertung der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ erzielten Telefonbetrüger im Jahr 2023 mit den Betrugsmaschen Enkeltrick, Callcenter und Schockanruf mehr als 117 Millionen Euro – ein neuer Rekordwert. Diese Zahl basiert auf einer Abfrage bei den LKAs. Während die Anzahl der Betrugsversuche auf knapp 99.000 Fälle zurückging, stieg der durchschnittliche Schaden pro vollendeter Tat erheblich an.
Niemand sei davor sicher, Opfer von Betrugsmaschen zu werden, sagt die Ermittlerin – selbst jene nicht, die sich mit dem Phänomen intensiv beschäftigt haben. Ein Beispiel ist der bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer. Er wurde Opfer eines Schockanrufs: Seine Tochter habe ein siebenjähriges Mädchen totgefahren und benötige 55.000 Euro Kaution, hieß es am Telefon. „Das fährt einem in die Glieder auf eine Weise, die mich emotional umgehauen hat. Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt, dass das passiert ist“, beschrieb Pfeiffer später seine Erfahrung. Nur durch einen Zufall – das Gespräch brach ab und er rief die echte Polizei an – flog der Betrug noch rechtzeitig auf.
Denis Fengler berichtet für WELT und WELT AM SONNTAG aus Hamburg über Themen der inneren Sicherheit und spannende Kriminalfälle.
Source: welt.de