Migrationsforscher Jochen Oltmer: „Arbeitsmigration hat es immer schon gegeben“
„Die Leutenot auf dem Lande macht sich immer mehr bemerkbar, es wächst die Schwierigkeit einheimische Arbeiter zu beschaffen; dagegen nimmt die Nachfrage nach Wanderarbeitern hauptsächlich nach Ausländern immer mehr zu. (…)
Es herrschen Missstände in Bezug auf Behandlung und auf die Unterbringung der Arbeiter, auf ihre Schlaf- und Wohnräume. Es werden vielfach auch die allerprimitivsten Vorschriften und Schutzmassregeln in sittlicher und hygienischer Beziehung außer Acht gelassen. (…) Der Gesetzgeber nimmt gegenüber den vom Auslande einwandernden Arbeitern eine Abwehrstellung ein, sucht das heimatliche Interesse zu schützen und die Einwanderung als einen nur zur Zeit nötigen Ersatz der Arbeitskräfte zu dulden.“
Diese Sätze sind rund 100 Jahre alt, sie stammen aus der Dissertation „Ausländische Wanderarbeiter in der deutschen Landwirtschaft“ aus dem Jahr 1914. Der Autor Andreas Mytkowicz beschreibt darin die Arbeits- und Lebenssituation polnischsprachiger Menschen, die zum Arbeiten auf Felder nach Deutschland gekommen sind – um das Fehlen einheimischer Arbeitskräfte zu kompensieren. Die Parallele zu heute ist offensichtlich. Schon damals übernahmen Ausländer Arbeiten, für die sich in Deutschland nicht genügend Menschen fanden. Schon damals lebten sie unter teils prekären, ausbeuterischen Bedingungen. Ein Gespräch mit dem Historiker Jochen Oltmer über die Geschichte der deutschen Arbeitsmigration.
der Freitag: Herr Oltmer, seit wann gibt es Migration nach Deutschland?
Jochen Oltmer: Räumliche Mobilität zum Arbeitserwerb hat es auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands immer gegeben, meist beschränkt auf kleine und mittlere Distanzen. Transportmittel waren teuer. Menschen, die für Arbeit ihre Heimat verlassen mussten, waren deshalb lange Zeit meist zu Fuß unterwegs.
Eine der ersten großen Migrationsbewegungen war die der Hugenotten im 17. Jahrhundert. Protestanten, die in ihrer Heimat, dem mehrheitlich katholischen Frankreich, verfolgt wurden und nach Preußen flohen. Was waren das für Menschen?
Viele spezialisierte Handwerker, Kaufleute, Offiziere. In Preußen arbeiteten sie häufig im gerade entstehenden Luxussegment. Sie fertigten Handschuhe und Hüte, webten Seide, bauten Möbel. Dabei hatten sie vor allem mit der gesellschaftlichen Elite zu tun, in der man Französisch sprach.
Viele Hugenotten waren „Fachkräfte“, würde man heute wohl sagen. Ihre Integration wurde wohl deshalb lange als entsprechend problemlos angesehen.
Das stimmt. Aber es gab auch Konflikte. Die Hugenotten waren von der Steuer befreit, sie erhielten Bauland und günstige Kredite. Diese Privilegierung wurde auch kritisch gesehen.
Im 19. Jahrhundert verlagerte sich der Fokus Richtung Osten. Es kamen vor allem polnischsprachige Menschen.
Zum einen die sogenannten Ruhrpolen. Menschen aus den Bergbaugebieten Oberschlesiens, aber auch aus Ost- und Westpreußen, die wegen der höheren Löhne in die Bergbaureviere des Ruhrgebiets zogen. Zum anderen polnischsprachige Menschen aus dem Ausland, aus Russland und Österreich-Ungarn, die jeweils zur Erntezeit nach Deutschland kamen. Sie stießen hier auf erheblichen Widerstand, vor allem seitens der politischen Elite.
Warum?
Man fürchtete, sie könnten die polnische Minderheit im Land zu sehr erstarken lassen. Für die polnischsprachigen Landarbeiterinnen und Landarbeiter galt daher auch ein Rückkehrzwang. Nach der Ernte mussten sie das Land wieder verlassen. Für andere Gruppen gab es diese Auflagen nicht. Etwa für Italiener und Niederländer, die zur selben Zeit in deutschen Ziegeleien, im Tief- und Bergbau und in der Industrie arbeiteten.
Was in der Diskussion um Migration häufig untergeht: Deutschland, beziehungsweise das Gebiet, das 1871 zum Deutschen Reich wurde, war eine Zeit lang selbst Auswanderungsland, vor allem im 19. Jahrhundert.
Die deutsche Bevölkerung war im 19. Jahrhundert enorm gewachsen, hatte sich fast verdreifacht, das stand in keinem Verhältnis zu den Erwerbsmöglichkeiten. Über sechs Millionen Menschen wanderten damals über den Atlantik aus, 90 Prozent in die USA, wo sie eine Zeit lang die größte Einwanderergruppe stellten. Die Entwicklung endete mit der amerikanischen Wirtschaftskrise von 1893, für die USA eine bedeutende Zäsur. In Deutschland hatte sich die Situation inzwischen verändert: Die Industrie war gewachsen, die Landwirtschaft wurde modernisiert. Es fehlten nun Arbeitskräfte. Deutschland wurde vom Aus- zum Einwanderungsland. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs arbeiteten 1,2 Millionen Menschen aus dem Ausland in Deutschland.
Eine der bedeutendsten Migrationsphasen in Deutschland begann 1955 mit dem Anwerbeabkommen mit Italien. Weitere Abkommen mit anderen Ländern folgten. Eine Ausnahme?
Deutschland war nicht das erste oder einzige industrialisierte Land Europas, das diese Art Vereinbarung schloss. Mitte der 1950er hatten fast alle europäischen Industrienationen Abkommen mit den südlichen Staaten ausgehandelt. Italien etwa hatte vor dem Abkommen mit Deutschland schon andere Vereinbarungen mit anderen Staaten getroffen.
14 Millionen Menschen kamen bis zum sogenannten Anwerbestopp 1973 nach Deutschland. Im Gegensatz zu heutigen Arbeitsmigranten waren die sogenannten Gastarbeiter in Deutschland damals fest auch bei Großunternehmen angestellt, viele arbeiteten anfangs noch mit deutschen Kollegen. Und doch war es schwer, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Sprachkurse gab es nicht, die Arbeiter waren zunächst in separaten Baracken untergebracht. Warum?
Weil man davon ausging, dass ihr Aufenthalt begrenzt war. Das gilt übrigens für alle Beteiligten, auch für die Entsendeländer. Die hofften, die Menschen würden mit neuem Know-how zurückkehren und die heimische Wirtschaft ankurbeln. Spätestens Ende der 1960er Jahre aber wurde klar: Die Menschen blieben in Deutschland. Sie hatten hier soziale Beziehungen aufgebaut, während die wirtschaftlichen Perspektiven in der Heimat nicht besser wurden.
Wie wurde das in der deutschen Gesellschaft aufgenommen?
Man hatte nicht ernsthaft über die Bleibeperspektive dieser Menschen nachgedacht. Jetzt aber waren sie da und schienen vor allem Kosten zu verursachen: Man brauchte mehr Kitaplätze, mehr Schulplätze, mehr Wohnungen. Erst jetzt begann die Diskussion darüber, was die Einwanderung konkret für die deutsche Gesellschaft bedeutet. Dabei ging es auch um deren Selbstverständnis: Die Bundesrepublik, gemeinhin als homogen wahrgenommen, war bunter geworden. Gesellschaften, die sich als homogen begreifen, nehmen Zuwanderung in der Regel als eine Bedrohung wahr. Da wird Migration mitunter zugelassen, aber es wird versucht, Niederlassung zu vermeiden.
Das gilt auch für die sogenannten Vertragsarbeiter in der DDR. Menschen aus sozialistischen Bruderstaaten wie Vietnam, Mosambik oder Angola. Ihr Aufenthalt war auf fünf Jahre begrenzt, Familie durften sie nicht nachholen, Frauen, die schwanger wurden, mussten abtreiben oder wurden abgeschoben.
Die DDR-Gesellschaft verstand sich als äußerst homogen. Die Regierung begegnete jedem, der nicht im Land sozialisiert worden war, mit Misstrauen. Man fürchtete, er oder sie könnte die politische Ordnung stören.
Sie sagen, der Blick der Mehrheitsgesellschaft auf bestimmte Migrantengruppen ändere sich.
Ja. In den 1950er und 1960er Jahren gab es beispielsweise lebhafteste Debatten über italienische Zuwanderer, da ging es viel um Kriminalität und Sexualität. Zugleich wurde Italien ein beliebtes Reiseziel der Deutschen. Die Migration aus anderen Ländern nahm rasch zu, neue Eingewanderte wurden nun als besonders fremd wahrgenommen. Italiener galten jetzt eher als Bereicherung.
Wie war das bei der Migration aus Osteuropa?
Schon vor der Osterweiterung, in den 1990er Jahren, kamen viele Menschen aus Polen zum Arbeiten nach Deutschland. Die Medien berichteten viel über sie. Meist wurden sie als illegal und kriminell klassifiziert. Damit verbunden waren starke politische Abwehrmechanismen. Später gerieten Menschen aus Rumänien und Bulgarien ins öffentliche Interesse. Es wurde viel über „Armutsmigration“ aus beiden Ländern und eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ diskutiert. Die Diskussion endete 2015. Weil es ein drängenderes Thema gab: die gestiegenen Geflüchtetenzahlen. In den Medien tauchten rumänische und bulgarische Arbeiter und Arbeiterinnen erst wieder im Zuge der Corona-Pandemie auf.
Foto: Michael Gründel/NOZ
Jochen Oltmer (geboren 1965) ist Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Uni Osnabrück. Er hat viele Bücher zu Migration verfasst, zuletzt Die Grenzen der EU. Europäische Integration, „Schengen“ und die Kontrolle der Migration