Michelle Steinbeck: Kampfansage aus welcher Salamifabrik

Michelle Steinbeck ist einiges gewohnt. Als 2016 ihr Debütroman Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch erschien, zerfetzte die Kritikerin Elke Heidenreich Werk und Autorin vor laufender Kamera: „Es ist grauenhaft, dieses Buch. Es ist entsetzlich. […] Unehrlich, verlogen, konstruiert“, schimpfte sie im Literaturclub des Schweizer Fernsehens. „Und wenn das ernst gemeint ist, dann hat die Autorin eine ernsthafte Störung.“

Steinbeck, damals 26 Jahre alt, reagierte souverän. „Ich bin psychisch stabil“, sagte sie. Ihr Roman, der beim kleinen Basler Lenos Verlag erschienen war, stand auf der Longlist des deutschen Buchpreises, später wurde er auch für den Schweizer Buchpreis nominiert und auf Englisch und Italienisch übersetzt. Steinbeck brachte einen neuen surrealen Sound in die Schweizer Gegenwartsliteratur. Selbstbewusst pfiff sie auf das vorherrschende Dogma, die Wirklichkeit zu Literatur zu machen, und erzählte von der Reise einer jungen Frau mit einem untoten Kofferkind zu ihrem Vater. Das war morbide, das war erfrischend, das war lustig.

Jetzt, acht Jahre später, erscheint Favorita, 460 Seiten dick. Gerne hätte man mit Michelle Steinbeck über den langen Weg zum zweiten Roman gesprochen. Einen Weg, auf dem sie Soziologie und Philosophie studierte, einen schmalen Lyrik-Band und mehrere Theaterstücke veröffentlichte, ein feministisches Autorinnenkollektiv gründete, zeitweise in Hamburg, London, Paris und Rom lebte und sich in Basel niederließ.

Doch ihr literarisches Kofferkind hatte sie auf erschütternde Weise im richtigen Leben eingeholt. Ende April meldete sich Steinbeck in ihrer Kolumne in der WoZ als „verwaiste, trauernde Mutter“ aus dem Wochenbett zurück: „Statt über den anstrengenden, beglückenden Alltag als Autorin mit einem lebenden Baby zu berichten, muss ich nun also über mein Leben mit meinem toten Baby schreiben.“ Steinbeck hatte ihr Kind bei der Geburt verloren. Offen und schutzlos beschreibt sie ihr Schicksal. Aber das Sprechen darüber fällt ihr schwer, lieber schweigt sie.

Also bleibt ihr Buch. Favorita setzt da an, wo der Walfisch aufgehört hat. Die Hauptfigur Fila ist die Tochter einer Italienerin und eines Schweizers. Sie wächst bei ihrer Großmutter Lavinia in der Schweiz auf. Als sie einen Anruf aus einem Krankenhaus in Neapel bekommt und erfährt, dass ihre Mutter getötet worden sei, macht sie sich auf den Weg in den Süden. Sie will herausfinden, wer ihre Mutter umgebracht hat.

Mit der Urne der Mutter unterm Arm reist sie durch Italien und trifft bald auf Sexarbeiterinnen, die von ihrer Mutter angeführt worden waren. Sie hatten sich in einer alten Salamifabrik (ausgerechnet!) zu einer feministischen Widerstandszelle zusammengeschlossen, um dem Patriarchat den Krieg zu erklären. Doch der Sieg über die Männerherrschaft muss warten. Denn unversehens landet Fila auf einem Landgut in Mittelitalien unter Halbstarken, hilft ihnen bei der Weinernte, verguckt sich in den blond gelockten Angelo, liest sich durch Zeitungsartikel über einen historisch verbürgten Frauenmord im Nachkriegsitalien und dringt immer weiter vor in die Machtriege einer faschistischen Untergrundorganisation, die in den Mord an ihrer Mutter verwickelt ist.

Es ist ganz schön viel, was sich Michelle Steinbeck vorgenommen hat. Es glückt vor allem ihrer Sprache wegen und weil sie, wie schon in ihrem Erstling, eine angstlose Erzählerin losschickt, um uns mit scheinbar kindlicher Naivität einen Spiegel vorzuhalten.

Durch die Augen und Ohren von Fila nehmen wir in Favorita die schlüpfrigen Anspielungen wahr, das Cat-Calling, die unbenannten Grenzüberschreitungen, die gelegentlichen Übergriffe, die sexualisierte Gewalt, denen sie als junge Frau in einer sexistischen Gesellschaft alltäglich ausgesetzt ist und die sie scheinbar regungslos erträgt. Die Summe all dessen, so die implizite These dieses Romans, ist der Femizid, der Frauenmord.

Trotz des schweren Themas liest sich Favorita leicht. Schon der Walfisch steckte voller Ironie, die hier wieder aufblitzt, wenn Steinbeck die Urne „eine Art Kompostbehälter“ nennt oder die Sexarbeiterinnen gegen den „arroganten Typen Jesus“ wettern und sich selbst als die „wahren Heiligen“ bezeichnen. Schließlich umarmten sie „die Aussätzigen“ und machten „kein Drama draus“.

Sprachlich holpert es manchmal, wenn zum Beispiel ein Spieß „umgekehrt“ werden soll oder die „Zikaden ratschen wie Käsereiben“. Doch der ironisch-morbide Steinbeck-Sound trägt einen locker durch die 460 Seiten und belohnt schließlich mit einer grandiosen Schlacht gegen den Endgegner Faschismus, in der Fila als Undercoveragentin den Sexarbeiterinnen zum Sieg verhilft.

Es habe sich seltsam vertraut angefühlt, schreibt Steinbeck in ihrer jüngsten Kolumne, als sie kürzlich auf ihrer eigenen Trauerreise durch Italien gefahren sei, mit der Asche ihres toten Kindes im Gepäck. Ihr Roman erscheine ihr heute wie ein „schlechtes Omen“, „ein grausamer Witz“.

Michelle Steinbeck: Favorita. Park X Ullstein, Berlin 2024; 460 S., 30,50 Fr., 22,– €