Michael Hartmann: „Eine ganze Generation SPD-Politiker muss Fehler eingestehen“

Die Debatte um Kürzungen beim Sozialstaat ist in vollem Gange. Dieser sei in seiner jetzigen Form „nicht mehr finanzierbar“, hatte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) vor einiger Zeit gesagt. Fünf Milliarden Euro will er beispielsweise beim Bürgergeld einsparen. Ist das der richtige Weg? Oder stärkt es nur die AfD, wenn der Rotstift bei den Ärmsten angesetzt wird?

Der Sozialforscher Michael Hartmann erforscht seit Jahrzehnten die deutschen Eliten. Im Interview erklärt er, wie die jetzige Bürgergelddebatte als ein von Eliten gesetztes Ablenkungsmanöver fungiert – und warum er seine Hoffnung inzwischen auf das BSW setzt.

der Freitag: Herr Hartmann, wieder einmal diskutieren Politik und Medienbetrieb das Bürgergeld, die schwarz-rote Koalition plant Einsparungen. Bundeskanzler Friedrich Merz hat angekündigt, die Bürgergeldreform zur Chefsache zu machen und nicht dem Arbeitsministerium zu überlassen.

Michael Hartmann: Das Bürgergeld ist ein Lieblingsthema der CDU, insofern wundert mich das wenig.

Dabei ist weitgehend bekannt, dass das tatsächliche Einsparpotenzial beim Bürgergeld nur marginal ist. Warum haben die Politikeliten so ein Interesse an einem Thema, bei dem sich kaum nennenswert Geld einsparen lässt?

Man kann damit sehr gut den Fokus in der Diskussion verschieben. Durch härtere Sanktionen gegen sogenannte „Totalverweigerer“ hofft die Bundesregierung, 150 Millionen Euro einzusparen. Das halte ich wie die meisten Experten für unrealistisch, aber selbst wenn, sind das Peanuts verglichen mit möglichen Einnahmen durch eine Vermögensteuer. Allein die 3.900 reichsten Deutschen haben ein Finanzvermögen von rund drei Billionen Euro. Da würde schon eine einprozentige Vermögenssteuer 30 Milliarden einbringen, jedes Jahr. Die CDU hat daran aber kein Interesse, und redet daher lieber übers Bürgergeld.

Wobei die Union ja durchaus ein Interesse an wirtschaftlichem Aufschwung und sinkenden Staatsschulden hat – beides durch Kleinklein beim Bürgergeld kaum erreichbar.

Ja, aber das Tabu bei der Vermögenssteuer ist einfach groß. Das berührt den zentralen Punkt des Eigentums. Da sehen Konservative in der Ferne den Sozialismus drohen. Zugegebenermaßen sitzen bei der CDU allerdings auch viele Menschen, die wirklich glauben, dass eine Vermögenssteuer die Reichsten zum Exodus bringt und somit sowohl der Wirtschaft als auch dem Staatshaushalt unterm Strich schadet. Tatsächlich zeigt die empirische Evidenz aus Ländern wie Norwegen aber: Selbst wenn ein paar wenige Superreiche das Land verlassen, werden die Staatseinnahmen insgesamt deutlich steigen, in Norwegen um ungefähr 50 Prozent. Einnahmen, die in Bildung und Infrastruktur gesteckt, das Leben der Menschen tatsächlich verbessern könnten.

Die Brandmauer wird auf Dauer auch hierzulande fallen. Da bin ich mir sicher

Stattdessen sehen wir trotz der gelockerten Schuldenbremse fortgesetzte Austeritätspolitik, unterfinanzierte Kommunen und Sozialkürzungen. Ist es diese Politik, die den Aufstieg der AfD ermöglicht?

Absolut. Wir haben jetzt bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen wieder gesehen, dass die AfD in traditionell sozialdemokratischen Wahlkreisen massiv dazugewinnen konnte. Ich spreche von Orten, an denen es infolge der Deindustrialisierung zu einer richtiggehenden Verelendung gekommen ist. Und solange die Menschen dort keine realistische politische Option für eine Umverteilung von oben nach unten sehen, treten etliche lieber nach unten und suchen das Problem bei Arbeitslosen und Geflüchteten. In so einer Stimmung punktet die AfD.

Wobei die SPD ja immer wieder eine höhere Erbschafts- und eine Vermögenssteuer fordert.

Ja, seit Jahrzehnten fordert sie das in ihren Wahlkämpfen. Aber seit 1998 ist die SPD mit einer Ausnahme an jeder Bundesregierung beteiligt. Passiert ist in dieser langen Zeit diesbezüglich gar nichts. Ganz im Gegenteil: Die massiven Vergünstigungen für hohe Vermögen bei der Erbschaftsteuer sind unter dem SPD-Finanzminister Steinbrück eingeführt und in der großen Koalition unter Merkel 2016 dann im Kern bestätigt und in Teilen sogar noch verstärkt worden. Kein Wunder, dass der SPD kaum jemand ihre Wahlversprechen noch abnimmt.

Das Paradoxe ist ja, dass SPD und Union am eigenen Ast sägen, wenn sie durch ihre reichenfreundliche Sozial- und Verteilungspolitik die AfD für immer mehr Wähler als attraktive Option erscheinen lassen.

Eigentlich bräuchte es eine Kehrtwende. Aber dafür müsste eine ganze Generation von SPD-Politikern ihre eigenen Fehler eingestehen. Und die SPD hat außerdem in erster Linie das Interesse, weiter als Koalitionspartner der CDU infragezukommen, um Regierungspositionen besetzen zu können. Aber das wird auf Dauer nicht funktionieren. Ich prophezeie ihr auf diesem Weg eine Zukunft unter zehn Prozent. Wer weiß: Wenn sie selbst eine andere politische Vision und zugleich den Mut hätte, die Union zu einer Minderheitsregierung zu zwingen, könnte sie womöglich viel mehr heraushandeln, als es ihr jetzt in der Regierung gelingt. Bei der CDU ist die Lage anders. Zum einen ist sie noch nicht so gefährdet wie die SPD, zum anderen bleibt ihr langfristig die Option, mit direkter oder indirekter Unterstützung der AfD zu regieren. Die Brandmauer wird wie in vielen anderen Ländern auf Dauer auch hierzulande fallen. Da bin ich mir sicher.

Die Linkspartei erinnert mich in manchem an die SPD der 70er-Jahre: eine immer stärker akademisierte Partei, die erfolgreich große Teile der jungen Menschen gewinnen konnte

Sie selbst unterstützen inzwischen öffentlich das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Kürzlich sagten Sie, dass Sie ihm von allen Parteien am ehesten zutrauen, Menschen abzuholen, die sonst aus Wut über materiellen Verlust die AfD wählen. Übersehen Sie da nicht die jüngst erstarkte Linkspartei?

Die Linkspartei von heute erinnert mich in manchem an die SPD der 70er-Jahre: eine immer stärker akademisierte Partei, die erfolgreich große Teile der jungen Menschen gewinnen konnte. Aber um langfristig große Teile der Arbeiterschaft oder vergleichbarer Teile der Bevölkerung zu gewinnen, musst du in diesem Milieu verankert sein. Das sehe ich bei den Linken derzeit einfach nicht.

Wobei die Linke ja durchaus bemüht ist, das Image von der Akademikerpartei loszuwerden, und mit Strategien wie dem Haustürwahlkampf oder der „Mietwucher-App“ gezielt die arbeitende Bevölkerung anzusprechen.

Das finde ich auch eine sehr gute Entwicklung. Ich sehe aber kaum Führungspersonen, die das glaubwürdig verkörpern. Man merkt es Menschen einfach an, wenn sie ihr Leben vor allem in Parlamenten oder internationalen NGOs verbracht haben. Der Haustürwahlkampf wiederum war sicher eine kluge Strategie. Nur: Die aktiven Parteimitglieder in Berlin leben trotzdem größtenteils in Bezirken wie Kreuzberg oder Neukölln und nicht in Hellersdorf oder Spandau. Man muss aber vor Ort verankert sein, will man Menschen politisch dauerhaft binden.

Und das BSW hat die Verankerung in der Arbeiterschaft, die den Linken Ihrer Meinung nach fehlt?

Ich sehe zumindest bessere Chancen, dass ihr eine Verankerung in Milieus, die vorwiegend AfD wählen, gelingen kann. Ich glaube fest, dass etwa die Hälfte der AfD-Wähler kein rechtsextremes Weltbild haben, sondern im Grunde noch immer Protestwähler sind. Als ich kürzlich als Gastredner bei einer BSW-Veranstaltung war, waren unter den circa 180 Anwesenden vor allem berufstätige Menschen zwischen 30 und Mitte 50, viele davon mit Migrationshintergrund. Eine Altersgruppe, die besonders anfällig für die AfD ist. Dem BSW könnte es gelingen, einen Teil dieser Menschen politisch zu erreichen und von der AfD wegzuholen. Ich selbst bin allerdings kein Mitglied des BSW und werde auch keines. Der Grund ist ganz einfach: Das BSW ist für mich eine Notlösung, um der AfD Paroli zu bieten. Eine linke Partei muss nach meiner Überzeugung jedoch immer durch gesellschaftliche Kämpfe von unten wachsen. Diese Kämpfe gibt es derzeit aber nicht.

Das Erstaunliche ist, dass das BSW gerade bei Menschen mit Migrationshintergrund eine überproportional große Zustimmung genießt

In den Bundestag hat es das BSW nun nicht geschafft …

Aber es war knapp. Zwei Fehler waren für mich letztlich entscheidend. Einmal die Regierungsbeteiligung in Thüringen. Ein zweiter schwerer Fehler war, kurz vor der Wahl im Bundestag gemeinsam mit der AfD zu stimmen. Ich kenne etliche Menschen, die sich danach vom BSW abgewandt haben. Ohne diesen Fauxpas hätte es trotz Thüringen noch geklappt.

Noch einmal zum Sozialen: Das BSW fordert relativ vage eine „Arbeitslosenhilfe, die sich daran orientiert, wie lange eine Person eingezahlt hat.“ Was soll das konkret heißen?

Ich denke nicht, dass das BSW da schon eine konkrete Ausgestaltung hat. Grundsätzlich finde ich so etwas aber durchaus gerechtfertigt. Diejenigen, die über lange Jahre in soziale Systeme eingezahlt haben, sollten davon auch etwas haben. Stattdessen haben seit der Agenda 2010 alle denselben Status – egal, ob sie nie oder über zwanzig Jahre eingezahlt haben. Das empfinden viele Menschen als ungerecht, und dieses Empfinden muss man aufgreifen, wenn man Wähler erreichen möchte. Bei der früheren Arbeitslosenhilfe, die durch die Hartz-Gesetze leider abgeschafft wurde, orientierte sich zum Beispiel die Höhe am vorherigen Einkommen. Man erhielt bis 1994 als Alleinstehender 63 und mit Kindern 68 Prozent des vor der Arbeitslosigkeit erzielten Nettoeinkommens. Ähnliche Regelungen bei Höhe oder Dauer der Zahlungen würden die Angst vor einem sozialen Absturz durch den Verlust des Arbeitsplatzes deutlich reduzieren und damit der AfD einen Teil des aktuellen Rückenwinds nehmen.

Das BSW fällt auch durch eine migrationskritische Rhetorik auf. Dadurch rücken Themen wie eine höhere Besteuerung der Reichen in den Hintergrund.

Das Erstaunliche ist, dass das BSW gerade bei Menschen mit Migrationshintergrund eine überproportional große Zustimmung genießt. Trotzdem bin ich in der Migrationsfrage in etlichen Punkten nicht mit dem BSW einverstanden. Ich habe allerdings auch keine wirkliche Lösung in dieser Frage. Bei der anstehenden Programmdiskussion wird man sehen, welche Positionen sich im BSW durchsetzen. Dass ich auf einen starken Fokus auf Umverteilung hoffe, wird Sie nicht überraschen.

Michael Hartmann (geboren 1952 in Paderborn) lehrte von 1999 bis 2014 als Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. 2018 erschien Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden (Camus-Verlag, 276 S., 26€).