Merz macht lichtvoll: Deutschland will kein Einwanderungsland sein

Um die Aussagen des Bundeskanzlers über das deutsche „Stadtbild“ einzuordnen, würde ich mit Ihnen gerne ein kleines Ratespiel spielen. Von wem stammt das folgende Zitat? „Ich sehe zum Teil in den Innenstädten, in denen ich mich bewege, noch vereinzelt Deutsche. Das kann nicht Ziel unserer Politik sein.“ Ist es: ein Vorsitzender der CDU? Ein Bundesinnenminister der CSU? Oder doch ein Vorsitzender der AfD?

Wer sich an die Elefantenrunde am Tag der Bundestagswahl im September 2017 erinnert, hat womöglich gleich erkannt, dass wir es hier mit einer rechtspopulistischen Aussage aus dem hellblau-roten und nicht aus dem bajuwarisch-königsblauen oder christdemokratisch-schwarzen Lager zu tun haben. Es war der damalige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen, der sich erstmals vor einem Millionenpublikum über die ethnische Zusammensetzung deutscher Innenstädte Sorgen machte.

Nach der Wahl 2017 regierte eine schwarz-rote Koalition. Wie auch jetzt. Die AfD war in der Opposition. Wie auch jetzt. Doch heute, acht Jahre später, ist es nicht ein Politiker der AfD, sondern ein Bundeskanzler der CDU, der mit einer fast wortgleichen Aussage, die Anwesenheit migrantischer Menschen in deutschen Städten zum Problem erklärt. Bei einem Termin in Brandenburg sagte er neben einem – übrigens weder davor noch danach widersprechenden – SPD-Ministerpräsidenten Dietmar Woidke: „Wir haben die Zahlen der neuen Asylanträge von August 2024 auf August 2025 um 60 Prozent reduziert. Aber wir haben natürlich immer noch im Stadtbild dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“

Symbolpolitik mit rhetorischen Ausrufezeichen: Beispiel Turboeinbürgerung

Im Grunde geht es darum, dass die Union eine Politikwende behauptet, von der sie weiß, dass sie sie nur mit Symbolpolitik und rhetorischen Ausrufezeichen umsetzen kann.

Zur Erinnerung: Anfang Oktober schuf sie nach nur einem Jahr die sogenannte Turboeinbürgerung nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland ab. Bundesinnenminister Dobrindt verkündete stolz: „Der deutsche Pass ist von nun an kein Pull-Faktor mehr“ und „wird wieder einzig als Folge gelungener Integration vergeben“. Da stellte sich die Frage: Ist er sich bewusst, wie verschwindend gering die Politikwende ist, für die er sich gerade selbst lobt?

Die Handvoll Menschen, die im letzten Jahr überhaupt die hohe Hürde der „Turboeinbürgerung“ überschritten haben – in ganz Brandenburg war es ein Fall, in Hamburg zwei, in München einer, in ganz Deutschland nur 195 – sind sicherlich vieles. Nicht „integriert“ zu sein, kann man ihnen aber nicht vorwerfen. Voraussetzungen für die beschleunigte Einbürgerung waren laut Bundesinnenministerium: Deutsch auf C1-Niveau, ehrenamtliches Engagement, das Sichern des Lebensunterhaltes für sich und die Familie und „im Job herausragende Leistungen“ zu erbringen. Wie wenige Zuwanderer diesen „Speedrun der deutschen Integration“ erfolgreich gemeistert haben – und vor allem, wie hoch die Hürde sein muss, die anscheinend dafür galt – zeigt sich an der Anzahl der erfolgreichen Bewerbungen:

Von 292.020 Einbürgerungen im Jahr 2024 waren es nur jene 195, die sich für eine beschleunigte Einbürgerung qualifizierten. Wenn ein Regierungspolitiker wie Dobrindt also andeutet, der deutsche Pass würde momentan wie ein Begrüßungsgeschenk verramscht, können alle, die eine Einbürgerung hinter sich haben, nur müde lachen. Dass er in einer Option, die nur 0,06 Prozent der Einbürgerungen betraf, einen „Pull-Faktor“ und in deren Abschaffung eine „Politikwende“ sieht, zeugt entweder von seinen bescheidenen Ansprüchen oder seiner außerordentlichen Fantasie. Oder eben von einer rechtspopulistischen Problemanalyse, die einer gewissen Oppositionspartei weiter rechts rhetorisch gut zu Gesicht stehen würde – jedoch nicht so recht zur schwarz-roten Regierungspolitik passen mag.

Merz macht klar, dass Zugewanderte unerwünscht sind

Das in der Praxis kaum relevante Hin und Her bei der „Turboeinbürgerung“ zeigt: Deutschland wollte auch unter der Ampelregierung kein Einwanderungsland sein, sondern lediglich mit einer praktisch irrelevanten Symbolpolitik sein Fachkräfteproblem lösen. Um Fachkräfte anzulocken, winkte man ein Jahr lang mit der Turboeinbürgerung, nur um sie dann wieder fallen zu lassen, um andere Symbolpolitik zugunsten der gesellschaftlichen Stimmung zu machen. Die Beliebigkeit, mit der die SPD-Fraktion vergangenes Jahr mit 89 Prozent für die beschleunigte Einbürgerung stimmte, nur um ein Jahr später mit 95 Prozent wieder für die Abschaffung zu stimmen, spricht Bände.

Nun, knapp zwei Wochen nach Dobrindts Jubel über eine migrationspolitische Politikwende, hören wir also Merz‘ Stammtischparolen zum deutschen Stadtbild. Und auch diese Debatte zeigt, wie wenig Menschen, die nach Deutschland kommen, mittlerweile von diesem Land erwarten können.

Es ist egal, wie sehr Menschen, die nicht „deutsch“ aussehen, sich integrieren, wie gut sie Deutsch sprechen, wie viel sie verdienen oder was sie tun: Sie werden für Deutschland nie genug sein.

Es ist egal, ob sie geduldet sind, die Staatsangehörigkeit von Geburt an haben, Doppelstaatler sind oder nach drei, fünf oder acht Jahren eingebürgert werden: Im Zweifel sind sie mit der „falschen“ ethnischen Herkunft hierzulande nicht erwünscht.

Es ist auch egal, wie sehr die Union sich in Projekten wie „Frauen 100“ rund um ihre weiblichen Vorzeigepolitikerinnen wie Julia Klöckner oder Dorothee Bär versucht, sich einen feministischen Anstrich zu geben: Im Zweifel ist es Friedrich Merz, der mit der Instrumentalisierung von Feminismus für rassistische Zwecke die politische Linie vorgibt.

AfD und Union: Einigkeit in der Sicherheits- und Migrationspolitik

Und zuletzt ist es für Menschen mit Migrationsgeschichte auch egal, ob die Union oder die AfD regiert. Was die Analyse betrifft, sind sich die drei Parteien anscheinend einig: Problem sind für CDU, CSU und AfD so nicht die marode städtische Infrastruktur, der Zustand der überteuerten Innenstädte oder fehlende „Integration“, sondern die Anwesenheit von Migrantinnen und Migranten im öffentlichen Raum an sich.

Insofern erübrigt sich – zumindest in Migrationsfragen – mittlerweile die Brandmauer-Debatte. Denn was diese angeht, hat Merz ja bereits klargestellt: Die AfD ist für ihn keine Option, weil sie sich gegen Währungsunion, Nato, Wehrpflicht und EU stellt. Von Rassismus, Remigration und Rechtsextremismus war von ihm keine Rede.

In der Elefantenrunde 2017 antwortete die frühere Kanzlerin Angela Merkel übrigens Jörg Meuthen mit einem Satz, den ein Friedrich Merz heute kaum über die Lippen bekommen würde: „Ich kann auf der Straße Menschen, die deutsche Staatsbürger sind und solche, die die deutsche Staatsbürgerschaft nicht haben, nicht unterscheiden.“

Dieses absolute Minimum an Respekt, dieses Einmaleins des Grundgesetzes und der demokratischen Staatsbürgerkunde: Es scheint der Union gerade verloren gegangen zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass sie sich daran erinnert. Denn anders als sie denkt, und im Gegensatz ihrer eigenen Integrität, handelt es sich bei den Wähler*innen nicht um Goldfische: Sie wissen genau, von wem die Sprüche stammen, die Merz gerade nachplappert. Und bevorzugen – wie man in den Umfragen zur Sonntagsfrage wunderbar ablesen kann – im Zweifel lieber das Original.