„Mein drittes Leben“ aufwärts Buchpreis-Longlist: Eine Folge von Abschieden
Da sähe man mal wieder, wie unnütz es sei, Pläne zu machen, heißt es gegen Ende des neuen Romans Mein drittes Leben von Daniela Krien. Am Schluss macht eine schwere Krankheit den Strich durch die Rechnung. Zu Beginn war es der Tod der Tochter. Ein rechts abbiegender Zwölftonner hatte die Radfahrerin übersehen. Sonja starb an Ort und Stelle, mit 17 Jahren, auf dem Weg zur Frauenärztin, um sich die Pille verschreiben zu lassen. Für die Mutter, Linda, Mitte vierzig, ist das eine Zäsur, sie kann nicht mehr zurück in ihr früheres Leben mit den „gut sitzenden Haaren, der Vorliebe für Kaschmir, Seide und teures Leinen und ihrem Widerwillen gegen alles Grobe und Schmutzige“. Lebte sie bis dahin als Kuratorin und Leiterin einer Kunststiftung, ist der Faden nun gerissen. Auch zu ihrem rund zehn Jahre älteren Ehemann Richard, Maler und Kunstpädagoge und Vater von Sonja und zwei weiteren Kindern, die ihn bereits zum Großvater gemacht haben.
In Interviews hat Daniela Krien, Jahrgang 1975, erzählt, dass ihre jüngere Tochter aufgrund eines Impfschadens – schon lange vor Corona – schwerstbehindert ist und täglich Pflege benötigt. Dieses Schicksal überträgt sie im Roman auf eine ihrer Figuren, Natascha, deren Tochter durch Autismus mit schweren Nebenerscheinungen nicht selbstständig leben kann.
Es sind diese unerwarteten Schicksalsschläge, die viele Figuren des Romans aus ihrem Leben werfen: Natascha durch das Schicksal der Tochter, die Nachbarn Bruni und Klaus durch Brunis metastasierenden Brustkrebs, und Frau Adomeit, die vor ihrem Tod Linda noch rasch den Hof samt zauseligem Hund überschreibt und ihr damit nach dem Tod der Tochter das Weiterleben im Dorf ermöglicht. Lindas Schwiegervater nimmt sich in seinem Auto das Leben, und die Großeltern sterben an Kohlenmonoxid einen Unfalltod. Aus all diesen Ereignissen entwickelt die Autorin ihr zentrales Motiv: „Das Leben ist eine Folge von Abschieden“, legt sie Linda in den Mund, „und alle Abschiede bereiten auf den letzten vor.“
Diesen letzten Abschied erspart uns Daniela Krien. Vielmehr erlebt der Leser einen großen Kampf gegen jede Form von Fatalismus. Der vierte Roman Kriens folgt auf Der Brand von 2021 mit seinen wesentlich schwächeren Szenen einer Ehe und verwischt den unglücklichen Eindruck, den die Verfilmung ihres Debütromans Irgendwann werden wir uns alles erzählen hinterlassen hat.
Kleine Schritte zurück
Das titelgebende dritte Leben bedeutet für Linda Rückzug, sie vertreibt alle Freunde und Bekannten, verliert den Job. Was Linda sich in ihrer Trauer abverlangt, mündet in einer Art des Sichtotstellens. Der einzige Mensch, der gelegentlich Zugangsrecht erhält, ist Richard, ihr Mann. Doch auch ihn hält sie auf Distanz. Ihr ist bewusst, was sie tut, sie will es: „Ich bin eine Frau ohne Kind, ohne Mann, ohne Angst und ohne Zukunft.“ Sie verkriecht sich an einem Ort, wo nichts auf die tote Sonja hinweist und niemand etwas von ihr verlangt. Dorthin dringen manchmal Richards Sätze: „Wenn dein Leben nur im Glück einen Sinn hatte, dann hatte es nie einen Sinn.“ Für Linda gilt ein anderer: „Wenn ein Kind geht, nimmt es dich mit.“ Später beginnt sie, in ganz kleinen Schritten aus ihrer Höhle zu treten. Den größten muss sie tun, als die Erben von Frau Adomeit Anspruch auf den Hof erheben und sie das Dorf verlassen muss: Linda zieht wieder in die Großstadt, zurück nach Leipzig.
Dennoch ist dies kein Buch, das den Leser herunterzieht, sondern eine Geschichte über ein vorsichtiges Zurück ins Leben. Die Autorin macht es ihrer Protagonistin dabei nicht leicht. Die gute Freundin Natascha schließt einen erweiterten Suizid nicht aus, weil sie glaubt, dass ihre Tochter ohne sie in einem Heim kein lebenswertes Leben finden wird. Ehemann Richard beginnt ein Verhältnis mit einer anderen Frau. Dass es sich um Brida Lichtblau handelt, die Schriftstellerin aus dem zweiten Krien-Roman Liebe im Ernstfall, deutet die fehlende Perspektive der Beziehung an: Im Vorgängerroman musste Brida hinnehmen, dass ihr Mann sich einer anderen zuwendet und sie ihn auf Dauer nicht halten kann. Auch jetzt verliert am Ende Brida, denn Richards Bindung an Linda erweist sich als stärker.
Mein drittes Leben ist ein großer Roman der Tröstung all jener, die das Schicksal zwingt, Lebenspläne aufzugeben. Erfahrungen von Trauer und Verlust werden alles andere als schöngeschrieben, aber sie bestimmen nicht das Ende des Romans. Was die Autorin behutsam gegen die Selbstaufgabe setzt, entwickelt sie aus einer beeindruckenden Menschenkenntnis. Obschon sie ihre eigene Lebens- beziehungsweise Unglücksgeschichte streift, ist der Roman nicht autofiktional.
Auch verführen sie die tragischen Geschichten nicht zu einem Erzählen, das Mitleiden erregen will. Krien schreibt vielmehr über die Tage hinaus, „an denen wir gedankenlos gesund und die Unversehrtheit des eigenen Körpers für eine Selbstverständlichkeit hielten“. Die Vorstellung, am Ende im Kreis einer großen Familie die Enkelkinder zu hüten, ist nicht denkbar ohne die Gefährdungen. Es geht um klare Einsichten, nicht um vage Gefühle.
Christliche Dramaturgie
Dass zum Raum der Kunst das Banale keinen Zugang hat, prägt auch die Sprache des Romans. Bilder werden sparsam eingesetzt. Entscheidend ist die einfühlsame Beschreibung der Figuren. Wenn Linda die Freundinnen ihrer verstorbenen Tochter beobachtet, vermutet sie, dass sie keine Ahnung haben, wie fragil ihr Leben ist. Zwar halten sie sich für individuell, wollen aber eigentlich nur irgendwo dazugehören. Wen der Tod des eigenen Kindes aus dem Leben reißt, weiß nicht, wie er noch dazugehören soll. Diese Erfahrung wird akzeptiert.
Die Qualität des Romans besteht in der Möglichkeit, sich in den Schicksalen der Figuren wiedererkennen zu können. Die Autorin rutscht dabei nicht auf die Ebene altbekannter Lebensweisheiten ab, wonach etwa „unter jedem Dach ein Ach“ wartet. Lindas Weg führt nicht weg von Gefühlen der Trauer und des Verlusts, sondern zu ihnen hin. Das vorletzte Kapitel endet mit dem Satz: „Doch in meinem dritten Leben sitze ich auf einem Küchenstuhl und lasse alle Gefühle kommen.“ Der Roman endet vorsichtig optimistisch. Das Leben scheint darauf zu warten, dass es beginnt, nachdem es zu Ende war. Der Theatermann George Tabori nannte das eine „christliche Dramaturgie“. Daniela Kriens Roman Mein drittes Leben scheint ihr zu folgen.
Mein drittes Leben Daniela Krien Diogenes 2024, 304 S., 26 €