Mehr wie nur Panzer: Rheinmetalls riskanter Masterplan
Wer die Website von Rheinmetall besucht, sieht die Sonne aufgehen. Langsam erhebt sie sich hinter der blauen Erdkugel und befreit sie von der nächtlichen Dunkelheit. In ihrer gleißenden Mitte: das Logo des Rüstungskonzerns. Das Video soll wohl so viel bedeuten wie: Hier passiert etwas Großes, etwas Globales. Mit etwas dramatischer Musik unterlegt könnte es auch der Vorspann einer beliebigen Filmproduktionsfirma sein. Und trotzdem, es passt zu Rheinmetall. Als Metapher für die Entwicklung, die der Rüstungskonzern in den letzten Jahren genommen hat. Dafür, wie er im Lichte des neuen Weltgeschehens aus dem Schatten getreten ist – und sich anschickt, die Machtverhältnisse in der globalen Rüstungsindustrie zu verschieben.
Es ist eine Phantasie, die Konzernchef Armin Papperger schon länger hegt. Doch bis vor wenigen Jahren fehlten die Voraussetzungen. Rüstung, damit wollte in Deutschland niemand etwas zu tun haben, schon gar kein Politiker. Rheinmetall lebte vor allem von seinem Autozulieferergeschäft und von Rüstungsaufträgen aus dem Ausland. Ein gewisses Wachstum gab es Jahr für Jahr, für große Sprünge reichte das nicht.
Jetzt aber sieht es ganz anders aus. Mehr als eine halbe Billion Euro will Deutschland angesichts der russischen Bedrohung bis 2029 in seine Verteidigung investieren. Von Kriegstüchtigkeit ist die Rede, von der „stärksten konventionellen Armee Europas“ spricht der Bundeskanzler. Und nicht nur in Deutschland, in ganz Europa und im Rest der Welt rüsten die Staaten auf. Rheinmetall ist einer der größten Profiteure. Allein von dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro entfallen angeblich mehr als 40 Prozent auf den Düsseldorfer Konzern, in den Büchern standen im ersten Halbjahr dieses Jahres Aufträge über mehr als 60 Milliarden Euro.
Vorbild sind große US-Konzerne
Doch das Wachstum, das Rheinmetall seit 2022 gezeigt hat, reicht Konzernchef Papperger nicht. Dabei geht es ihm um mehr als die bloßen Zahlen. Vielen noch immer als deutscher Panzerbauer und Munitionshersteller bekannt, strebt Rheinmetall längst nach größeren Zielen: Ein europäisches Gegengewicht zu den großen amerikanischen Rüstungskonzernen soll das Unternehmen werden, mit Waffensystemen und Software für Heer, Marine und Luftstreitkräfte. Bei der Kriegsführung wird es immer mehr auf die Vernetzung der Streitkräfte ankommen, die Systeme müssen ineinandergreifen.
Wer als Anbieter alles abdeckt, ist im Vorteil. Papperger will sein Unternehmen in die Liga von amerikanischen Rüstungsgiganten wie Lockheed Martin (Umsatz 71 Milliarden Dollar) und Northrop Grumman (Umsatz 41 Milliarden Dollar) führen. Papperger peilt mit Rheinmetall bis 2030 einen Umsatz von 40 bis 50 Milliarden Euro an. „Dann hätten wir einen Champion geschaffen, der mit den Amerikanern mithalten kann“, sagte er im Juli in einem Interview mit der „Welt“.
Doch nicht jeder glaubt daran, dass Rheinmetall das gelingen kann – und wenn es schiefgeht, hat den Nachteil vielleicht das ganze Land. Der Weg ist jedenfalls weit: Knapp 9,8 Milliarden Euro Umsatz verbuchte das Unternehmen im vergangenen Jahr. Zwar bezeichnet sich Rheinmetall selbst als „integrierten Technologiekonzern“ und „internationales Systemhaus der Verteidigungsindustrie“. Das Geld wird derzeit allerdings nach wie vor überwiegend im Kerngeschäft verdient: mit schweren Landwaffensystemen wie etwa Kampf- und Schützenpanzern oder Haubitzen und ihren Komponenten.
Niemand in Europa stellt so viel Munition her wie Rheinmetall, das Geschäft ist sehr profitabel. Solange die Lager nicht gefüllt sind und in der Ukraine weiter gekämpft wird, bleibt die Nachfrage hoch. Mit der Zeit hat Rheinmetall immer größere Kontrolle über die Lieferkette erlangt, stellt Treibladungen und Sprengstoffe her und baut sogar die Produktionsanlagen selbst.
Wachstum in neuen Geschäftsfeldern
Gleichzeitig treibt Papperger die Expansion in ganz neue Geschäftsfelder voran. Vor wenigen Tagen kündigte er an, die Marinesparte des Schiffbauers Lürssen zu kaufen. Das Bremer Unternehmen konzentriert sich künftig auf sein Geschäft mit luxuriösen Yachten. Dass Rheinmetall seinen Einfluss auf die Marine ausbauen möchte, ist kein Geheimnis. Auch Thyssen Krupp Marine Systems (TKMS) hatte Papperger schon im Visier, doch in Kiel ließ man ihn Medienberichten zufolge abblitzen und bringt das Unternehmen nun lieber an die Börse.
Rheinmetall ist hungrig. Die Autosparte, die Rheinmetall einst rund die Hälfte des Umsatzes einbrachte, will Papperger loswerden. In der Rüstung dagegen gibt es immer weniger Bereiche, in denen das Unternehmen nicht mitmischt. Eine kurze Zwischenbilanz der Umtriebigkeit: Mit dem amerikanischen Drohnen- und KI-Spezialisten Anduril will Rheinmetall das Geschäft mit autonomen Luftfahrtsystemen stärken, im niedersächsischen Weeze baut Rheinmetall Rumpfteile für den amerikanischen Kampfjet F-35, gemeinsam mit dem italienischen Unternehmen Leonardo gibt es eine neue Allianz für einen Kampfpanzer.
Zudem hat es Rheinmetall abgesehen auf Iveco, konkret auf die Sparte für militärische Lastwagen. In diesem Bereich hat Rheinmetall bereits ein starkes Standbein. Mit dem Kauf eines Fahrzeugspezialisten sicherte man sich im vergangenen Jahr Fertigungskapazitäten in den USA. Das Land werde für Rheinmetall ein „bedeutender Heimatmarkt“. Neuer Name des Unternehmens: American Rheinmetall Vehicles.
Und nun die Übernahme des Militärgeschäfts von Lürssen – das vielleicht wichtigste Investment der letzten Jahre. Für einen Rüstungskonzern ist es attraktiv, Hersteller der sogenannten Plattformen zu sein, also etwa der Fregatte, des Panzers oder Flugzeugs. Damit geht mehr Kontrolle darüber einher, welche Komponenten verbaut werden – und wenn man viele davon selbst fertigt, lohnt sich das Geschäft gleich doppelt. Zudem könnte sich das Marinegeschäft mit Blick auf einen möglichen militärischen Konflikt im Indopazifik als lohnend erweisen.
Er zieht die ganze Industrie mit
„Papperger sieht das so: Wenn der Weizen in der Ernte steht, muss man mähen“, sagt einer, der den Konzernchef kennt. „Er hat den Mähdrescher früh angeworfen, der mäht und mäht und mäht jetzt. Und wenn er ein Feld sieht, das noch nicht bestellt ist, dann sät er eben aus.“ Mit Rheinmetall sei er erheblich in Vorleistung gegangen, was den Ausbau von Kapazitäten angehe, sagt ein anderer. Mit seinem unternehmerischen Antrieb ziehe er die Industrie insgesamt mit.

Es hilft, dass die Verbindungen in die Politik eng sind. „Wir wollen, dass Sie erfolgreich sind, denn Ihr Erfolg bedeutet Sicherheit für unser Land“, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius, als Rheinmetall jüngst nach nur anderthalb Jahren Bauzeit ein Werk zur Herstellung von Artilleriemunition in Niedersachsen offiziell einweihte. Das Wohlergehen der Nation knüpft ein SPD-Politiker an das Wohlergehen von Rheinmetall, wer hätte das noch vor wenigen Jahren gedacht. „Papperger ist in Industriefragen der Nummer-eins-Berater von Boris Pistorius“, heißt es von einem Branchenkenner. Zwar hat er die Sympathien vieler Industriekollegen nicht auf seiner Seite – seinen Ehrgeiz und Geschäftssinn stellt allerdings niemand infrage.
So hat Rheinmetall die Chance einer Beteiligung an dem amerikanischen Kampfjet F-35 ergriffen, als Flugzeugspezialist Airbus den Amerikanern eine Absage erteilte: Der Auftrag lohne sich nicht. Ob das Geschäft für Rheinmetall dagegen sonderlich lukrativ ist? Beobachter bezweifeln das, es geht um ein technologisch anspruchsvolles Produkt mit nicht allzu hohen Stückzahlen.
Doch Rheinmetall konnte mit dem Projekt seine Geschäftsbeziehungen zum US-Konzern Lockheed Martin vertiefen, der Hauptauftragnehmer für das Flugzeug ist. Der gute Kontakt trägt Früchte: Vor einigen Tagen stellten beide Unternehmen auf einer Rüstungsmesse den „Fuchs JAGM“ vor, einen umgebauten Transportpanzer von Rheinmetall, der mit Raketen des US-Herstellers bestückt ist. Im April gaben die beiden Konzerne bekannt, künftig Flugkörper und Raketen gemeinsam in Europa zu fertigen.
Die Strategie birgt Risiken
Die hohen Erwartungen spiegeln sich an der Börse wider. Jahrelang kostete eine Rheinmetall-Aktie um die 85 Euro, seit 2022 ist der Kurs deutlich gestiegen. Inzwischen steuert er auf 2000 Euro zu. Nimmt sich Rheinmetall zu viel vor?
Wachstumsschmerzen gibt es in der gesamten Industrie, der notwendige Kapazitätsausbau ist enorm. Während es einige dominante Hersteller gibt, sind die Zulieferer zersplittert. Ein kleines Familienunternehmen mit 20 Mitarbeitern, das eine kritische Komponente herstellt, ist da bereits ein potentielles Nadelöhr. Im Juli ermahnte der Verteidigungsminister in der „Financial Times“ die Unternehmen zu mehr Tempo. Nun, wo die langfristige Finanzierung der Aufrüstung klar sei, gebe es keinen Grund mehr, sich zu beschweren, so der Minister. Die Produktion müsse hochgefahren werden. Eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft aus diesem Jahr kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Auslieferung vieler Bestellungen an die Bundeswehr hinzieht. Das liegt nicht nur an fehlenden Kapazitäten, sondern auch an knappen Rohstoffen.
Eigentlich hat Rheinmetall also schon alle Hände voll zu tun, mehr von seinen traditionellen Produkten herzustellen. „Der Hochlauf der Kapazitäten ist an sich schon eine Herausforderung“, sagt Christian Cohrs, Analyst bei Warburg Research. Im Bereich der Munition, wo Rheinmetall auf jahrzehntelange Erfahrung blickt und wesentliche Teile der Lieferkette kontrolliert, ist das noch die leichtere Aufgabe. Die produzierten Mengen konnte Rheinmetall deutlich steigern. Und doch läuft selbst da nicht alles rund. So kündigte Rheinmetall im Februar 2024 den Bau einer Munitionsfabrik in der Ukraine an – vor wenigen Tagen nun wurde dem Konzern überhaupt erst ein Grundstück für die Fabrik zugewiesen. Auf Rheinmetalls Luftabwehrsystem Skyranger wartet die Bundesregierung nach längeren Lieferverzögerungen noch immer.
„Es besteht das Risiko, dass Rheinmetall sich übernimmt und die Aufträge nicht abarbeiten kann“, sagt auch Christian Mölling, Leiter der Denkfabrik Edina, die sich auf sicherheitspolitische Analysen spezialisiert. Er gibt zu bedenken, dass die ganzen neuen Geschäftsbereiche und Unternehmen auch in den Konzern integriert werden müssen.
Manche Beobachter sagen, es fehlten gewachsene Führungsstrukturen, um neue Geschäftsbereiche erfolgreich zu verzahnen. Bei Rheinmetall hingegen sieht man es als Vorteil, dass der oberste Managementkreis eher klein ist. „Rheinmetall hat sehr kurze Entscheidungswege, das hilft bei der Integration.“ Den verschiedenen Einheiten gebe man Freiheiten. „Das waren ja auch vor unserem Zukauf bereits sehr erfolgreiche Unternehmen.“
Dass eine Integration auf lange Sicht nicht immer gelingt, zeigen diverse Aufspaltungen großer Konzerne in den letzten Jahren, von Siemens über Daimler bis Continental. Durch die Strategie Rheinmetalls wachse die Komplexität als Ganzes erheblich, sagt Analyst Cohrs. „Es gibt so viele Wachstumsmöglichkeiten in bestehenden und angrenzenden Feldern – warum muss man in ganz neue Geschäftsbereiche vordringen?“ Im Marineschiffbau etwa habe der Konzern bisher kaum Expertise. Rheinmetall wäre nicht das erste Unternehmen, das das Geschäft unterschätzt. Das allerdings ficht Papperger nicht an. „Er tickt unternehmerisch und sieht oft mehr Chancen als Risiken, das ist in seiner DNA“, sagt Analyst Cohrs. Im Konzern ist man zuversichtlich: „NVL ist ein sehr profitables Unternehmen, es gibt viel Know-how über die Herstellung qualitativ hochwertiger Produkte.“
In welchem Bereich Papperger als Nächstes seinen Einfluss ausbauen will, ist bereits klar: im Weltraum, wo sich das nächste große Wettrüsten anbahnt. Vor Kurzem gründete Rheinmetall hierfür eine neue Abteilung im Unternehmen.