Mark Tokar: Free Jazz im Kampfanzug

Es
ist die zehnte Ausgabe von freejazzsaar, der
Saal in Saarbrücken randvoll, das Publikum am dritten Tag des Festivals schon beschwingt
und eingestimmt auf den steten Fluss des Unerwarteten, nächster Auftritt im
Programm: das internationale Quartett McPhee Swell Tokar Kugel, in der
Besetzung Saxofon, Posaune, Kontrabass und Schlagzeug.

Als
der Bassist die Bühne betritt, stutzen die Freunde der freien Musik: Mark Tokar
kommt im Kampfanzug, Tarnfleck, Soldatenmütze. Und das ist keine Pose, wie an den
blaugelben Rangabzeichen der ukrainischen Armee zu sehen ist.

Bevor
der erste Ton erklingt, tritt der Jazzmusiker ans Mikrofon. Sein Englisch ist rau.
Seit dem 7. März 2022 diene er in der Armee als Captain – was ins Deutsche
übersetzt wohl ein Hauptmann wäre. Er würde als Musiker die Truppe unterstützen
und Geld für Anti-Drohnen-Waffen sammeln. Er habe eine Spendenbox dabei, die er
nach dem Set am Merchandising-Stand aufstellen werde. Es gebe auch einen
QR-Code, falls jemand lieber etwas überweisen wolle.

Eben
waren die Konzertbesucher noch mit Bier und Brezeln beschäftigt, entspannt im
Gespräch über das Gehörte, jetzt wird es still im Saal. Als Mark Tokar endet, ist
der Beifall verhalten. Das muss kein Ausdruck einer politischen Haltung sein;
vielleicht ist es einfach der Schock über das plötzliche Einbrechen der unangenehmen
Welt in den Schutzraum der Musik. Free Jazz in Uniform. Der Krieg ist da.

Joe
McPhee und Steve Swell aus den USA, der Deutsche Klaus Kugel, Mark Wassiljewitsch
Tokar aus Lwiw. Sie tun, was der Moment ihnen eingibt. Freie Musik. Aufeinander
hören, miteinander spielen. Männer mit verschiedenen Gaben, in eine wortlose
Konversation vertieft. Die Vier sind Lyriker, viele ruhige Momente. Aber sie können
auch laut. Bald fliegt dem Captain die Militärmütze vom Kopf. Er trommelt mit
den Händen auf dem Korpus, klatscht mit der Rechten auf das Griffbrett seines
schlammfarbenen Basses; der Ehering blitzt im Licht und gibt bei jedem
Aufschlag ein scharfes Geräusch.

Später
schließt er die Augen, spielt mit leiser Intensität, ohne alle Aufgeregtheit.
Als der Schlagzeuger zu einem Solo anhebt, wiegt Tokar den Bass in seinen
Armen, den Blick in die Höhe gerichtet.

Sie
improvisieren, und doch ist eine Struktur zu spüren. Die Musik brandet in
Wellen an, anschwellend, abschwellend. Als der Posaunist ein Solo spielt, schwenkt
er sein Instrument hin und her, als wolle er jeden Ton herausschütteln, der
vielleicht irgendwo im Rohr hängenzubleiben drohte. Einmal zieht er den Dämpfer
aus dem Trichter und pocht mit dem abgelösten Mundstück rhythmisch dagegen. Blecherne
Perkussion von einem Instrument, das für sein Gleiten bekannt ist. Nach zwanzig
Minuten endet das Set, großer Applaus. Ein Musiker im Kampfeinsatz, drei nicht – so ist die Lage, und wir haben keine Märsche gehört, sondern tastende Fragen.

Der
Beifall verlangt nach mehr, sie setzen wieder an. Diesmal zieht der Posaunist
alle Blicke auf sich, als er sich bückt und den Trichter seines Horns schräg
auf den Boden setzt. Er schiebt das Blech quer über die Bühne, es ist ein metallisches
Kreischen, keines, das aus dem Atem kommt. Gleise fallen einem ein,
Schienenstränge, Züge Richtung Osten oder aus dem Osten. Aber das ist nicht die
Musik, das sind die Gedanken.

Dann
noch ein zartes Flageolett des Bassisten, ein Aushauchen von allem. Könnten wir
doch alle aufatmen.

Starker
Beifall. Und Tokar stellt eine Zigarrenschachtel zu den Schallplatten und CDs
auf den Merchandising-Tisch. Die Schachtel füllt sich mit Scheinen.

„Jetzt bin ich im Krieg“

Draußen im Innenhof, später. Tokar hockt auf einer Bank und raucht, wie im Biwak sieht es aus. Paar Fragen? Nur zu! „Ich war Reservist, und jetzt bin ich ein richtiger … jetzt bin ich im Krieg.“ Keine Musik im Dienst, sondern Dokumentation der Verluste. Getötete Soldaten, verschwundene Soldaten, Soldaten in russischer Gefangenschaft, alles aufschreiben. Auch Schulbesuche, um Jugendlichen die Armee nahezubringen.

Er
sei einst zwei Jahre beim Militär gewesen, in den Neunzigerjahren, jetzt sei er 51,
ein Musiker in musikfremdem Einsatz. Und dieser Auftritt hier? Teil einer Tournee. Zwölf Konzerte in Litauen, Polen, Belgien, Deutschland,
Österreich. Warschau, Brügge, Bonn, Wien. Vom ukrainischen Generalstab
genehmigt.

Hat
man ihm den Auftritt in Uniform vorgeschrieben? Nein, nein, das sei seine Idee
gewesen, und er habe seine Brüder in der Band vorher gefragt. Das sei okay,
hätten sie gesagt, no problem. Ja, er wolle das Publikum informieren,
weil man in Europa so wenig über den Krieg wisse. Und die Reaktion? Immer gut. Natürlich, die
Überraschung über die Uniform, aber das sei nun sein Leben, und nicht nur
seins. Die russische Invasion habe das Leben aller Ukrainer verändert.

Die
Spenden reiche er weiter an jene Gruppen, die den radioelektronischen Kampf
führten. Sie bauten Sender, die die russischen Drohnen erblinden oder
abstürzen ließen. Keine Ahnung, wie das funktioniere, aber so ein Ding auf
einem Fahrzeug würde darüber eine schützende Kuppel errichten. Ohne Hilfe aus
Europa könne die Ukraine nicht gewinnen, sagt er. Und wenn sie nicht gewinnt,
seien die baltischen Staaten dran, dann vielleicht Polen, und dann – wer weiß.

Die
Zigarette ist aus. Mark Tokar geht die Zigarrenschachtel holen.