Marion Messinas „Die Entblößten“: Der Geruch verkohlter Haut

Verkohlte Haut. Das ist der imaginäre Geruch, der einem bei der Lektüre von Marion Messinas neuem Roman Die Entblößten begleitet. Ein junger Mann übergießt sich mit Benzin, zündet sich an und stirbt direkt vor dem Pariser Parlamentsgebäude: Das Drama um den jungen Studenten Enzo Brunet, vergewaltigt und gepeinigt, ist der Ausgangspunkt der Geschichte, oder vielmehr der Geschichten. Geschichten über ein Frankreich und seine Bewohner in einer nahen Zukunft, die allzu fern gar nicht mehr scheint. Es ist ein Frankreich, das auf der einen Seite so verarmt ist, dass Menschen sich nur noch mangelhaft ernähren und wegen der hohen Energiekosten frieren müssen. „Seit der letzten Rentenreform sind alte Leute erfroren und Siebzigjährige am Arbeitsplatz tot umgefallen. Die Gemeindeverwaltungen vollbringen manchmal eine gute Tat, indem sie gebeugte Greise vor den Schulen den Verkehr regeln lassen“, heißt es. Für die Menschen geht es ans Eingemachte, die Unversehrtheit der Körper steht infrage. Nicht umsonst lautet der Originaltitel in Anspielung auf ein Zitat von Louis-Ferdinand Céline La peau sur table – die Haut auf den Tisch legen, sich nackt machen, entblößen. Dazu passt, dass in diesem neuen Frankreich Frauen bei drei abgelehnten Jobangeboten ihren Körper verkaufen müssen, dass manche Menschen frieren und ihr Essen knapp ist.

Es ist ein Frankreich, das die Menschen mehr noch als heute den Marktmechanismen ausliefert und natürlich neben den vielen Verlierern auch einige Gewinner hervorbringt. Deren einziger Lebenssinn besteht nunmehr in der quantitativen Erfassung ihrer Leistungen und im totalen Rückzug ins Private. Der eigene Livestyle als neue Gottheit, der besonders bei der Aufzucht des Nachwuchses gepriesen wird: „musikalische Früherziehung des Säuglings, Babymassage, Wassergymnastik für die Kleinsten, Biowindeln, Feng-Shui-Kinderzimmer, Nachtlicht ohne Strom, Bakterienbekämpfung, Walnussöl; jeder Euro, den sie ausgeben, ist ein Identitätsmarker.“ Messinas feiner Zynismus ist manchmal gnadenlos überzeichnet, manchmal zurückgenommen und nachdenklich.

Eine Hochstaplergesellschaft

Das Land wird angeführt von einer Präsidentin namens Mazurka. Einer hocheffizienten Verwalterin, die keine Überzeugungen, keine Ideologien vertritt, sondern die Gesellschaft möglichst so organisiert, dass die Wirtschaftsinteressen gewahrt werden. „Die Franzosen sind allzu lange davon ausgegangen, dass der Staat alle Pflichten übernimmt und nur Rechte vergibt“, glauben die Mazurkisten, sozusagen die Post-Macronisten. Hört man der Präsidentin beim inneren Monolog über die außer Kontrolle geratene Lage zu, kommt man nicht umhin, daran zu denken, wie verächtlich, herablassend und zynisch sich der aktuelle Präsident gelegentlich über sein Volk geäußert hat. Er selbst würde einen Job finden, wenn er nur die Straße überquert, ist so ein legendärer Macron-Spruch. Bei Messina soll das Volk vor allem stillhalten und ertragen. Doch genau diese Stille, vielmehr Sprachlosigkeit wird mit Brunets Tod beendet, denn bald taucht ein Video auf, das die Massenvergewaltigung zeigt. Die Täter: Bürgersöhnchen aus gutem Hause. Einer von ihnen ist das Patenkind der Präsidentin.

Als Leser werden wir auf 170 Seiten in diese Hochstaplergesellschaft geworfen, voll von Abgehängten und Egoisten. Dabei tauchen wir in Lebenswege und Lebenswelten ein, die uns präzise und detailreich beschrieben werden. So wird die Lage greifbar, fühlbar, in dieser nicht so schönen neuen Welt, die „nach der großen Wende“ entstanden ist. Wir begegnen dem promovierten Literaturwissenschaftler Paul, der das bürgerliche Leben hinter sich lässt und an der Supermarkt-Fleischtheke in der Provinz strandet, wo er sich mit Aurélien und Élodie anfreundet, die versuchen, gegen alle Widerstände und die großen Landwirtschaftsbetriebe ihren Bauernhof am Leben zu halten.

Da ist die Lehrerin Sabrina, die vergeblich versucht, noch einen Sinn in ihrem Beruf zu erkennen, und die durch die Kürzungen im öffentlichen Dienst kaum noch über die Runden kommt. Bildung wird in der Hochstaplergesellschaft nur noch als Mittel zum Zweck begriffen, Lehrer sind Dienstleister, Bildungsinhalte richten sich nur noch nach dem Nutzen für wirtschaftliche Interessen. Sabrinas Tochter lebt inzwischen lieber beim Vater, der nichts anderes will, als in dieser Gesellschaft auf der Gewinnerseite zu stehen.

Messina nimmt uns mit auf eine Reise in ein Land, das nicht daran zugrunde geht, dass eine rechtsextreme oder linksradikale Regierung die Macht übernimmt. Die klassische politische Dystopie, das faschistische oder kommunistische Extrem, interessiert die Autorin nicht. Für die „Entblößten“ lauern die Indifferenz, die Agonie und der Abgrund in der Mitte. Den Herrschenden fehlt eine Vision, eine Überzeugung. Frankreich erlebt hier keine politische Radikalisierung, sondern die radikale Entpolitisierung.

Marion Messina, Jahrgang 1990, hat in den letzten drei Jahrzehnten politische Umbrüche erlebt. Als Kind im Frankreich unter Jacques Chirac, dann ab 2007 und dem „Husaren“ Nicolas Sarkozy, der abgelöst wurde vom „Pudding“ François Hollande, dem wiederum „Jupiter“ Emmanuel Macron folgte. Das Vertrauen ihrer Generation in die Kraft des politischen Wandels hat nicht nur gelitten, sondern ist nahezu gänzlich verschwunden. Gerade deshalb ist ihre dystopische Version des französischen Staates so vielsagend. Auch die Erfahrung der Gelbwestenbewegung, die Messina offen unterstützte, ist in Die Entblößten eingeflossen. Als Chaos und Proteste ausbrechen, stehen dem Leser sofort wieder die Bilder der in Tränengas gehüllten Champs-Élysées vor Augen. Interessant ist, dass Messina im französischen Literaturbetrieb weit weniger Aufsehen erregt als im Ausland.

Gerade in Deutschland feiert man sie als Nachfolgerin von Michel Houellebecq und zählt sie neben Édouard Louis und Nicolas Mathieu zu den aktuellsten und einflussreichsten Autorinnen Frankreichs. Das mag auch daran liegen, dass die Literaten dort als Erben von Annie Ernaux Privates erzählen, das durch und durch politisch ist. Das gibt es in Deutschland, in dieser literarischen Dichte erzählt, viel seltener. Dass es dabei auch immer um den Gegensatz zwischen den Pariser Eliten und dem Rest des Landes in der Provinz geht, ist dem zentralistischen System geschuldet, bei dem alle politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entscheidungen in der Hauptstadt getroffen werden. Das Buch wirkt in seiner Kürze über Strecken wie ein Essay, der hier und da abgelöst wird von differenzierteren, leiseren Tönen. Manchmal wünscht man sich beim Lesen, Messina hätte ihren Roman mit Dialogen ausgestattet, hätte Begegnungen zwischen Menschen zugelassen, denn am Ende bleibt man etwas lesedurstig zurück. Sei’s drum. Messina beherrscht den literarischen Kassandraruf wie wenige ihrer Generation, und sie beweist wie schon in ihrem ersten Buch Fehlstart, dass sie nicht nur eine moralische Haltung hat, sondern auch verdammt gut schreiben kann.

Die Entblößten Marion Messina Claudia Kalscheuer (Übers.), Hanser 2024, 170 S., 23 €