Lyrik | Erlöse uns nicht vom Bösen: Juliane Lieberts „Mörderballaden“
True Crime zieht immer. Ob Netflix oder Podcast – wahre Geschichten vom Bösen haben Hochkonjunktur. Nur warum? Weil sie uns etwas über die Untiefen der menschlichen Psyche verraten? Die Brüchigkeit der dünnen zivilisatorischen Decke aufzeigen? Wer sich eingehender mit des Rätsels Lösung beschäftigen will, kann sich nun in einer für das kriminalistische Sujet recht ungewöhnlichen Gattung umschauen, nämlich der Lyrik.
Hineingezogen ins Grauen werden wir von Juliane Liebert. Mitunter treffen wir in ihrem Band mörderballaden auf die einst als „schlimmste Frau der Welt“ bezeichnete Serienkillerin Lizzie Halliday. Mehrere Frauen und ihre Ehemänner soll sie auf dem Gewissen haben. In der poetischen Annäherung werden wir dieser bestialischen Person als einer Geisteskranken gewahr. Umgeben von Insekten, faselt sie, untergebracht in einer Nervenanstalt, wild durcheinander, spricht über einen Bären, den man ihr eingenäht habe, sowie angeblich allgegenwärtige Schlangen.
Äußerst unterhaltsam liest sich ein Poem
Ein Text über die zum Tode verurteilte KZ-Aufseherin Elisabeth Becker mutet nicht minder verstörend an. Die ballade vom mitleid beschreibt, wie deren Henker ihr noch bei der Hinrichtung eine Jacke umlegte. „ich weiß nur / dass dein büttel mehr mensch war als du jemals / warm gehenkte“, so die Bewertung des anonymen, lyrischen Ich.
Mag bei diesen Täterinnen die Antipathie eindeutig ausfallen, lässt die Beurteilung anderer schon mehr Ambivalenzen zu. Allen voran jenen Kriminellen, deren Verbrechen sich gegen die Reichen richten, kommt der Robin-Hood-Mythos entgegen. Äußerst unterhaltsam liest sich etwa das Poem über Luigi Mangione. 2024 soll er in den USA den CEO der finanzstarken privaten Krankenversicherung UnitedHealthcare, Brian Thompson, umgebracht haben.
Dass viele angesichts der radikalen, sozial unverträglichen Gesundheitsreform unter Trump diesen Gewaltakt verherrlichten und den Mörder glorifizierten, greift auch die 1989 geborene Liebert auf: „‚einen volkshelden / hatten wir lang nicht mehr‘ / flüstern die fotografen einander zu“. Ähnlich gefeiert wurde die Bankräuberin Peggy Jo Tallas. „die sie jagten / bewunderten ihren stil“, weil sie „so gut wie jeder mann (sei) / sagte das fbi später / so gut wie jeder mann“.
Liebert lenkt den Blick auf weibliche Gewalt
Anfang der 1990er Jahre überfiel sie fünf Geldinstitute und erhielt wegen ihres weißen Zehn-Gallonen-Hutes bald schon den ikonischen Beinamen „Cowboy Bob“. Diese illustre Dame, die 2005 wegen des Zückens einer Spielzeugpistole von Polizisten erschossen wurde, hat Liebert gewiss sehr bewusst ausgewählt. Zum einen verkörpert sie in der Epoche des Raubtierkapitalismus eine Rächerin der Armen, zum anderen eine ironische Gegensetzung zum Titel des Buches, mörderballaden. Denn kennen wir nicht vor allem die maskulinen Täter, die Geschichte schrieben? Die uns Streamingdienste tagtäglich präsentieren und die sie bisweilen heroisieren?
Liebert führt uns nun die feminine Seite menschlicher Verkommenheit vor Augen und problematisiert zugleich die Konstruktion vom Sexy Bad Boy, dem man nun eigentlich eine Bad Woman zur Seite stellen müsste. Darüber hinaus lenkt die Dichterin unseren Blick auch auf die Ursachen weiblicher Gewalt. Klar, sie können, wie gezeigt, ökonomischer Natur sein. Die echte Wut geht jedoch auf andere Quellen zurück.
Eines der fesselndsten und ergreifendsten Gedichte thematisiert die Vergeltung für einen sexuellen Missbrauch. Darin überschüttet eine Frau den Peiniger ihrer Tochter in einer Kneipe mit Terpentin, bevor sie ihn anzündet. Während sich der Text bis zu diesem eruptiven Moment reimt und so in der Form auf eine männliche Ordnung der Welt hinweisen könnte, treffen wir am Ende auf folgenden Satz: „die reime reimen sich nicht weiter“.
Und so ist es dann auch. Nichts fügt sich mehr zueinander. Männer, die zuvor vor keiner Schandtat zurückschreckten, werden Opfer und friedliche Frauen zur Nemesis. Und was wird aus der Mörderin, deren Motive manche menschlich nachvollziehen können? Sie sitzt zuletzt „auf einer bank und schaut aufs meer / wies helden tun, es heulen die sirenen“.
Die Gedichte sind mehr als übliche Krimiprosa
Wie alle Poeme des Bandes schließt auch dieses ohne Punkt ab. Der Reigen, so die Botschaft, geht weiter. Wir dürfen keine Erlösung vom Bösen erwarten. Zu verkommen, zu makaber, ja, zu mitleidlos erscheint uns der Kosmos in Lieberts Lyrik, als dass er naive Hoffnungen zuließe. Mehr als die übliche Krimiprosa vermittelt diese Poesie Atmosphären. Es bedarf nur weniger Worte, um die Düsternis zu vermitteln und mit zynischen Wendungen noch eins draufzusetzen: In einem Text schneidet ein lyrisches Ich seiner Oma die Kehle durch. Im Anschluss lädt es dann im Erdgeschoss zu einer Party ein, die Besucher „wussten nicht, wer oben lag / wir tanzten ein paar tage“.
Ungeachtet der Gender-Aspekte, ob Frau oder Mann zu blutrünstigen Maschinen degenerieren, geben diese Gedichte voller Witz und Monstrosität vor allem eines zu erkennen: eine seelenlose Gesellschaft. Die in Berlin lebende Autorin und mitunter für die SZ arbeitende Journalistin knüpft damit an ihren viel beachteten Debütband lieder an das große nichts (2021) an. Als gerade die Welle der antiklassistischen Prosa ihren Höhepunkt erreichte, legte sie damit ein lyrisches Äquivalent vor. In heruntergekommene Stadtbezirke eintauchend, geben ihre frühen Gedichte vom Elend der Verlorenen und Abgehängten Kunde.
Eines ihrer Textsubjekte bekennt: „die große verzweiflung hat mich, und ich hätte lieber kippen / ich hätte lieber kippen als alles andere auf der welt“. Schon die Grammatik stimmt nicht mehr. Die Sätze befinden sich im freien Fall, genauso wie die Menschen. Die Peggys und Luigis aus mörderballaden gehören auch dazu, fristen ein Dasein am Rand der sozialen Gemeinschaft. Dass sie Lieberts Lyrik nun aus dem Schatten hervorholt, ist ein Verdienst – auch wenn wir dadurch nur noch klarer unserer eigenen Abgründe gewahr werden.
mörderballaden Juliane Liebert Suhrkamp 2025, 60 S., 20 €