Lubmin an dieser Ostsee: „Das ist einer dieser besten Wasserstoff-Standorte Europas“

An einem Novembertag vor 14 Jahren drehte Angela Merkel, umgeben von europäischen Spitzenpolitikern, an einem großen Rad. Symbolisch öffnete die Kanzlerin im kleinen Seebad Lubmin in Vorpommern das Ventilrad der neuen Ostsee-Pipeline Nord Stream, die russisches Erdgas nach Europa bringen sollte. Im beschaulichen Lubmin mit seinem kilometerlangen Sandstrand nebst Seebrücke und male­rischem Kiefernwald erreichte die Leitung das Festland. Nord Stream sollte ein neuer Meilenstein für die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen werden.

Die Sache ist bekanntlich nicht gut ausgegangen. Vor bald vier Jahren setzte Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine den Energielieferungen ein Ende. Es fließt kein russisches Erdgas mehr über Lubmin nach Europa. Aber in dem Dorf am Meer, gut 50 Kilometer vor der polnischen Grenze, wollen sie im Energiegeschäft schon bald wieder an einem ziemlich großen Rad drehen.

Wasserstoff statt Nord-Stream-Erdgas aus Russland

„Hier passiert was“, sagt Lubmins Bürgermeister Axel Vogt und schildert rou­tiniert die ehrgeizigen Pläne: Die abge­legene Gemeinde mit ihren nur gut 2200 Einwohnern im nordöstlichsten Zipfel der Republik soll ein Zentrum der deutschen Wasserstoffwirtschaft werden. Schon in wenigen Jahren könnte dann von Lubmin aus im großen Stil klimaneutraler grüner Wasserstoff für Stahlwerke und Chemiefabriken in ganz Deutschland geliefert werden.

Eigentlich ist beim Thema Wasserstoff eine große Ernüchterung eingetreten. Das klimaschonende Gas wurde noch vor wenigen Jahren als Wunderwaffe für den Klimaschutz in der Industrie gefeiert. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) stellte 2019 seine „Nationale Wasserstoffstrategie“ vor, die Deutschland zu einem Wasserstoff-Champion machen sollte. Und es stimmt ja auch: Ohne Wasserstoff können etwa Stahlwerke und Chemiefabriken kaum klimaneutral werden. Aber inzwischen hat sich gezeigt, wie schwierig der Aufbau der Wasserstoffwirtschaft ist.

Wichtige Standortvorteile in Lubmin

Während China mit riesigen Schritten expandiert und groß in den neuen Energieträger investiert, wurden in Deutschland und anderen europäischen Ländern aus wirtschaftlichen Gründen reihenweise Wasserstoffprojekte abgesagt oder auf Eis gelegt. „Der deutschen Wasserstoffpolitik droht der freie Fall“, sagt Felix Matthes, kommissarischer Vorsitzender des Nationalen Wasserstoffrats, eines Expertengremiums, das die Regierung bei ihren Plänen berät.

Aber wenn es irgendwo in Deutschland klappen könnte mit dem grünen Wasserstoff, dann vermutlich in Lubmin. „Wir haben hier beste Voraussetzungen“, sagt Bürgermeister Vogt – und das sieht nicht nur er so. Grüner Wasserstoff wird in sogenannten Elektrolyseanlagen aus Ökostrom und Wasser erzeugt. Grünen Strom gibt es in Lubmin reichlich, denn hier kommen die Stromkabel von großen Offshore-Windparks in der Ostsee an Land. Wasser für die durstigen Elektro­lyseure ist an der Ostseeküste ebenfalls genug da.

Hinzu kommen in Lubmin weitere wichtige Standvorteile: ein bestens ausgebautes Stromnetz mit großem Umspannwerk zum Beispiel, denn in Lubmin arbeitete bis zur Stilllegung vor 30 Jahren eines der größten Kernkraftwerke Ostdeutschlands. Die Gemeinde hat auch ein großes Industriegebiet auf dem ehemaligen Kraftwerksgelände mit freien Bauflächen, ein paar Kilometer östlich der Gemeinde.

Vier Investoren planen Wasserstoff-Fabriken

Und dann ist da noch ein weiterer Vorteil: Das kleine Lubmin ist – Nord Stream sei Dank – gut angebunden an das deutsche Erdgas-Fernleitungsnetz, das für den Transport von Wasserstoff umgenutzt werden kann.

„Lubmin ist der interessanteste Wasserstoffstandort in Deutschland und einer der besten in Europa“, sagt Peter Rößner. Der Chef des kleinen Energieunter­nehmens H2Apex will in Lubmin eine große Elektrolyseanlage mit einer Kapazität von 100 Megawatt bauen, genug für eine Jahresproduktion von bis zu 10.000 Tonnen grünem Wasserstoff.  300 Millionen Euro soll der Bau kosten, 167 Millionen davon haben Bund und Land als Fördergeld zugesagt. Rößners geplante Wasserstofffa­brik ist von der EU als strategisch wichtiges Projekt im Rahmen des sogenannten IPCEI-Programms („Important Project of Common European Interest“) anerkannt. Nächstes Jahr soll der Bau beginnen, 2029 der erste Wasserstoff erzeugt werden. Im Sommer hat H2Apex einen großen Infrastrukturfonds aus Dänemark als Partner ge­wonnen.

Außer H2Apex haben noch drei andere Investoren angekündigt, in Lubmin Fabriken für grünen Wasserstoff zu bauen – ein weiterer meldete mittlerweile Insolvenz an, dessen Projekt H2Apex fortführen will. Geplant ist auch ein Hafenterminal, in dem per Schiff importierter grüner Ammoniak in Wasserstoff umgewandelt werden soll. Auch der Essener Energiekonzern RWE interessiert sich für Bauflächen in der Gemeinde. Wenn all diese Pläne verwirklicht werden, dann fließt ein Milliardenbetrag an Investitionen in das Ostsee-Dorf, und Lubmin wird tatsächlich ein führender Standort für grünen Wasserstoff in Deutschland.

Sind Deutschlands Wasserstoff-Pläne überdimensioniert?

Die Wasserstoffaufbruchstimmung in Lubmin steht allerdings in einem scharfen Kontrast zur aktuellen Debatte rund um das grüne Wundergas. Erst kürzlich veröffentlichte der Bundesrechnungshof einen schonungslosen Bericht, in dem er mit den Plänen der Bundesregierung zum Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft hart ins Gericht ging.

Die deutschen Wasserstoffpläne drohten zum Milliardengrab zu werden, warnen die Rechnungsprüfer. In diesem und im vergangenen Jahr habe die Bundes­regierung zusammen mehr als 7 Milliarden Euro an staatlichem Fördergeld bereitgestellt, rechnen sie vor. Für die Zukunft seien weitere 5,6 Milliarden Euro zugesagt. Davon profitieren Unternehmen, die grünen Wasserstoff herstellen wollen wie RWE oder eben H2Apex. Milliardenhilfen sollen aber auch die Stahlhersteller Thyssenkrupp, Salzgitter und Saarstahl erhalten, die ihre Produktion von Kohle auf Wasserstoff umstellen wollen.

Der Rechnungshof fordert, Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche von der CDU müsse die Wasserstoffpläne „grundlegend überarbeiten“. Beispiel Wasserstoffkernnetz: Bisher ist geplant, bis 2032 ein bundesweites, 9000 Kilo­meter langes Wasserstofffernleitungsnetz zu schaffen, teilweise durch Neubau, teilweise durch die Umstellung bestehender Erdgasleitungen auf Wasserstoff (siehe Karte). Die erwarteten Kosten von rund 19 Milliarden Euro sollen langfristig über Netzentgelte der Wasserstoffkunden refinanziert werden.

Erste deutsche Wasserstoff-Pipeline ist startklar

Aber viele Fachleute halten die Pläne für überdimensioniert. Deutschland sei mit dem ehrgeizigen Pipelineprojekt zwar weltweit Vorreiter, aber sowohl die Erzeugung als auch der absehbare Verbrauch von Wasserstoff entwickle sich viel langsamer als erhofft. „Wir werden das komplette Wasserstoffnetz benötigen, aber später als angenommen“, sagt Energieexperte Matthes vom Nationalen Wasserstoffrat.

In Lubmin indes geht es auch schon beim Wasserstoffnetz voran. Eine 260 Kilometer lange Leitungstrasse auf dem Weg nach Süden ist bereits von Erdgas auf Wasserstoff umgestellt. Bis zum Jahresende werde eine durchgehende Wasserstoffleitung von Lubmin bis ins 400 Kilometer entfernte Bobbau in der Chemieregion Bitterfeld in Sachsen-Anhalt geschaffen, sagt Dirk Flandrich, Chef des Wasserstoffbereichs beim Gasnetzbetreiber Gascade.

„Wir haben damit die größte Wasserstoff-Pipeline der Welt“, sagt er. Gascade gehörte früher zur BASF-Tochter Dea Wintershall und ist wegen des Ukrainekriegs verstaatlicht worden. Mittelfristig werde Gascade seine Wasserstoffleitungen bis nach Ludwigshafen führen, wo BASF als potentieller Großabnehmer sitzt, sagt der Gasnetzmanager.

Es gibt da nur ein Problem: Die Leitungen mögen startklar sein, aber zumindest vorerst fehlt der Wasserstoff, der durch sie fließen soll. Warum aber ist der Aufbau der Wasserstoffwirtschaft so schwierig? „Die kurze Antwort ist: Grüner Wasserstoff ist bisher zu teuer, deshalb zögert die Industrie“, sagt Flandrich. Als Faustformel nennen Fachleute: für die Kunden wird die Umstellung auf grünen Wasserstoff auf breiter Front erst dann rentabel, wenn sein Preis nicht höher ist als der von Erdgas, einschließlich des auf fossile Brennstoffe in Europa zu zahlenden CO2-Preises.

Höhere CO2-Preise würden Wasserstoff rentabel machen

Regierungsberater Matthes vom Nationalen Wasserstoffrat rechnet vor: Auf längere Sicht könnte der Preis für in Deutschland hergestellten grünen Wasserstoff von derzeit mindestens 7,50 Euro je Kilogramm auf 3 Euro fallen, unter anderem weil es immer mehr Ökostrom gibt. Damit wäre er auch günstiger als sogenannter blauer Wasserstoff, erwartet Matthes. Dieser wird aus Erdgas hergestellt, wobei die dabei entstehenden Emissionen aufgefangen und durch Speicherung unschädlich gemacht werden.

Bei 3 Euro wiederum wäre der grüne Wasserstoff konkurrenzfähig mit Erdgas. Allerdings unter einer wesentlichen Voraussetzung: Der auf Erdgas zu zahlende CO2-Preis müsste sich dafür gegenüber heute auf 150 Euro je Tonne verdoppeln. Doch Industrielobbyisten machen derzeit massiv Druck, um einen weiteren Anstieg der CO2-Preise zu verhindern.

Der Wasserstoff könnte heute schon viel günstiger sein

Experten sagen, grüner Wasserstoff könnte schon heute viel billiger sein. Der größte Kostenblock bei der Herstellung sei der Strom, sagt Stefan Dohler, der Chef des Oldenburger Energieversorgers EWE, der einer der größten Wasserstoff-Investoren in Deutschland ist. Eigentlich sei Windstrom in Norddeutschland ja gar nicht selten sehr günstig, erklärt er. Regelmäßig gibt es nämlich inzwischen an stürmischen Tagen hohe Stromüberschüsse, die den Preis drücken. Das Problem: Wegen derzeit geltender strikter EU-Vorgaben für grünen Wasserstoff darf der spottbillige Ökostrom nicht zur Wasserstofferzeugung genutzt werden.

„Stattdessen müssen wir Windkraftanlagen bei Stromüberschüssen abschalten, der Windstrom wird quasi weggeworfen“, sagt Dohler. Das klingt verrück, aber immerhin: Bundeswirtschaftsministerin Reiche hat angekündigt, sich für pragmatischere Regeln auf EU-Ebene einzusetzen.

„Die Erzeugungskosten für unseren grünen Wasserstoff könnten um einen Euro je Kilogramm billiger sein, wenn wir überschüssigen Windstrom nutzen könnten“, sagt auch der Wasserstoffunternehmer Rößner von H2Apex. Aber trotz aller Hindernisse: Sein Unternehmen werde in Lubmin schon bald grünen Wasserstoff herstellen, verspricht er. Kunden dafür gebe es. „Wir haben einen Abnehmer für den Wasserstoff“, sagt Rößner. Den Namen werde sein Unternehmen in den kommenden Wochen bekannt geben.