„Lolita lesen in Teheran“: Die Frauen uff welcher Leinwand könnten meine älteren Schwestern sein
Einer der fundamentalen Unterschiede zwischen einem islamischen Gottesstaat und einer weltlichen Diktatur besteht darin, dass Menschen im islamischen Autoritarismus selbst in den eigenen vier Wänden zu Straftätern werden können: weil sie westliche Serien schauen, selbst gekelterten Wein im Schrank haben, verbotenen Popsongs lauschen, weil sich ein unverheiratetes Paar unter demselben Dach aufhält. Oder weil man ein verbotenes Buch besitzt. Unter der Herrschaft der Islamisten ist die Liste immer noch lang – und so willkürlich, dass sich in beinahe jedem iranischen Haushalt ein paar verbotene, ehemals verbotene oder künftig verbotene Bücher finden lassen.
In meiner Kindheit und Jugend in den Nuller Jahren stellten Verwandte mir beim Anblick eines Buches stets dieselbe Frage: Ist das verboten? Die Buchhandlungen in der kleinen Stadt im Nordwesten des Iran, in der ich aufwuchs, waren in Wahrheit Schreibwarenläden. Selbst von den offiziell erlaubten Büchern der Islamischen Republik lag dort kaum etwas im Schaufenster, weil sie ohnehin niemand kaufte. Die Wertschätzung für ein Buch stieg aber merklich, sobald klar wurde, dass es auf der Liste der verbotenen Werke stand.
Der Film Lolita lesen in Teheran, der jetzt ins Kino kommt, erinnert mich sehr an diese Zeit. Er handelt von einer Gruppe junger Frauen, die sich im Wohnzimmer ihrer ehemaligen Professorin – die längst der Universität verwiesen worden ist – trifft, um über Weltliteratur zu sprechen: über Der große Gatsby, Jane Austens Werk oder über Lolita, Vladimir Nabokovs Skandalroman.
Der Film, basierend auf dem 2003 erschienenen, gleichnamigen Memoir von Azar Nafisi, erzählt die Geschichte dieser kleinen, flüchtigen Gemeinschaft von Frauen. Frauen, die für ein paar Stunden in der Woche den Grauschleier ihres Alltags abstreifen: den streng religiösen Vater, den gewalttätigen Ehemann, die Moralsadisten der Sittenpolizei. Sie fliehen in die Wohnung der Professorin, um sich in die Literatur zu retten.
Roman und Film spielen in den 1990er-Jahren: Der Iran taumelt gerade erst aus dem verheerenden Krieg, wirtschaftliche Reformen rauben der Gesellschaft die Luft, und Ajatollah Chamenei – frisch an der Macht – erklärte mit seiner Theorie der angeblichen „kulturellen Invasion des Westens“ den Kulturschaffenden den Krieg. Die Morde an Intellektuellen häufen sich, die Zensur ist so scharf, dass sich kaum noch trennen lässt, was erlaubt und was verboten ist.
Nabokovs Lolita nimmt unter diesen Verboten einen besonderen Platz ein. Das 1955 erschienene Werk über einen pädophilen Mann mittleren Alters und das titelgebende Mädchen war selbst in Ländern, die sich als Hüterinnen der Meinungsfreiheit feierten, ein Skandal und zeitweise zensiert. Vielleicht eignet sich Lolita gerade deshalb nur bedingt als Beispiel für die Absurdität der iranischen Zensur. Auch ohne staatliche Repression würde das Buch von weiten Teilen der Gesellschaft abgelehnt.
Im Iran erschien Lolita erst 2014 in einer neuen persischen Übersetzung und kursierte ausschließlich untergründig. Natürlich versuchte die Regierung dennoch, die wenigen Exemplare einzuziehen; Zahlen über den tatsächlichen Verkauf existieren nicht.
In meinem Freundeskreis war das Buch kein Thema, wir feierten in den frühen 2010er Jahren vor allem die Blütezeit des unzensierten Kinos. Filmbegeisterte kauften DVDs US-amerikanischer und europäischer Filme in der Teheraner Revolutionsstraße, kopierten sie, druckten Poster aus und bauten private Archive auf. Manche finanzierten ihr Studium mit dem DVD-Verkauf. Unter uns selbst ernannten Anhängern des kritischen Denkens der Frankfurter Schule galt Hollywood als oberflächlich. Mein Stolz war mein nahezu vollständiges Archiv der Filme von Godard, Bresson, Buñuel und anderen Europäern. Dass man viele dieser Filme nie vollständig sah, spielte kaum eine Rolle.
Doch Lolita war etwas anderes: eine Art ultimatives Vergehen. Selbst unter uns jungen, selbst ernannten Intellektuellen, die das religiöse Regime verachteten und von denen viele früher oder später die Erfahrung von Haft, Prügel und Folter der Sicherheitskräfte machten – selbst unter uns gab es jene, die moralisch auftraten und Lolita für obszön hielten und Nabokov für verdorben. Das hinderte uns jedoch nicht daran, um den Film zu rangeln. Ich kann mit ziemlicher Gewissheit sagen, dass die meisten Männer meiner Generation beide Lolita-Verfilmungen (1962 von Stanley Kubrick und 1997 von Adrian Lyne) mehrmals gesehen haben. Bei den Frauen mag es etwas anders gewesen sein.
Die Vorstellung, dass sich eine Gruppe junger Frauen im Teheran der 1990er-Jahre um die Lektüre westlicher Klassiker versammelte, war für jemanden wie mich damals Lichtjahre entfernt.