Lindners Schuldenmacher: Wie die Finanzagentur des Bundes arbeitet

Thomas Weinberg drückt auf Enter. Mit einem einzigen Klick hat er gerade Milliarden an Schulden aufgenommen. Nicht für sich selbst, nicht für ein großes Unternehmen. Weinberg hat in diesem Moment Schulden gemacht, um die Rentenversicherung, den Bau und Erhalt von Straßen, Brücken und Schienen oder die Tilgung bereits bestehender Schulden zu finanzieren. Er ist Chefhändler der „Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur GmbH“ und damit dafür zuständig, dass der Bundesrepublik das Geld nicht ausgeht.

Weinbergs Büro liegt weit weg vom politischen Berlin, weit weg von Christian Lindners Finanzministerium. Sein Büro und die der 340 anderen Mitarbeiter der Finanzagentur liegen in einem großen, grauen Bürokomplex im Mertonviertel am Stadtrand von Frankfurt. Hier sucht man vergeblich nach den ­hohen, glänzenden Wolkenkratzern des Bankenviertels und dem Glamour der Frankfurter Skyline. Lediglich ein Schild mit der Aufschrift „Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur GmbH“ weist darauf hin, dass hinter der Fassade Schulden im Milliardenbereich verwaltet werden.

Milliardentruppe: Chefhändler Thomas Weinberg (links) mit Holger Cassens
Milliardentruppe: Chefhändler Thomas Weinberg (links) mit Holger CassensFrank Röth

Dass der Staat sich meistens zusätzlich zu den Steuereinnahmen weiteres Geld leihen muss, ist schon lange der Fall. Zuletzt war bis in das Jahr 1999 das Bundesfinanzministerium (BMF) in Zusammenarbeit mit der Bundesbank dafür zuständig. Mit Einführung des Euros entschied sich das BMF, das Schuldenmanagement in einer Institution zu bündeln – der Finanzagentur. Mit der Einführung der Gemeinschaftswährung entstand eine Konkurrenzsituation: Es gab nun mehrere Staaten, deren Anleihen auf dieselbe Währung, den Euro, lauteten. Global agierenden Investoren konnten somit aus einem großen Angebot an in Euro denominierten Staatsanleihen auswählen.

Bei der Finanzagentur werden Schulden per Auktion gemacht. Und hier kommt Weinberg ins Spiel. Denn er ist für die Organisation und Durchführung dieser Auktionen zuständig. Der Volkswirt mit hagerer Statur und hessischem Dialekt hat nach seinem Studium zunächst bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau in der Finanzmarktabteilung ­gearbeitet. Heute veräußert er jeden Montag, Dienstag und Mittwoch Bundeswertpapiere in Milliardenhöhe. „An diesen drei Tagen öffnet das sogenannte Bund Bietungs-System um 8:00 Uhr“, erklärt Weinberg, „aber die Gebote entwickeln sich vor allem zwischen 11:28 Uhr und 11:30 Uhr, also kurz bevor der ‚Auktions-Hammer‘ fällt.“

In den letzten Minuten der Auktion stehen Weinberg und die verantwortlichen Händler meistens zu viert in seinem Büro im Handelsraum. Welcher Kurs wird akzeptiert? Wer bekommt den Zuschlag? Normalerweise sitzen die insgesamt acht Händler im angrenzenden Handelsraum vor großen Bildschirmen, auf denen sekündlich eine Flut von Kurszahlen und Finanznachrichten durchläuft. Einer von ihnen ist Holger Cassens. Er ist seit 2017 bei der Finanzagentur ­tätig, nachdem er zuvor 23 Jahre lang in verschiedenen Handelsbereichen bei einer Bank gearbeitet hatte. In seiner aktuellen Position ist er für die Bundesanleihen mit einer Laufzeit von 10 bis 30 Jahren zuständig.

50 Euro oder 1 Milliarde Euro – das ist ganz egal

Auch er ist bei den Auktionen dabei. Gemeinsam mit Weinberg und seinen Kollegen ist Cassens gefordert, Entscheidungen im Milliardenbereich innerhalb von Minuten, teilweise sogar Sekunden, zu treffen. Ihr bisheriger Rekord liegt bei 18 Sekunden. Würden sich Weinberg und seine Kollegen mehr Zeit lassen, könnte dies dazu führen, dass die Bieter in Zukunft nicht mehr teilnehmen, weil sie das Kursrisiko scheuen.

Wenn Weinberg von der Auktion erzählt, zieht er immer wieder den Vergleich zu einer Kunstauktion, bei der teure Gemälde, Schmuck oder Antiquitäten verkauft werden. Doch wenn die Finanzagentur ihre Papiere versteigert, gibt es einen Unterschied: Die Bieter sehen die Angebote der anderen nicht. Die Banken geben entweder einen festen Kurs, das Kursangebot, oder lediglich ein Volumen ohne Preisangabe, das sogenannte Billigstgebot, ab. Die Gebote werden nach Kursen sortiert. Höhere Kurse sind für den Bund vorteilhafter, da sie niedrigere Renditen, also niedrigere Zinszahlungen für die Steuerzahler bedeuten. „Wir entscheiden dann, bis zu welchem Kurs wir Gebote akzeptieren, um das Zielvolumen zu erreichen“, erklärt Weinberg, „Wir können jedoch auch entscheiden, einen Teil der Billigstgebote zu akzeptieren oder nur einen Teil des zuletzt akzeptierten Kursgebots zuzuteilen, um die gewünschte Summe zu erreichen.“

Manchmal muss es schnell gehen: 
  Manche Entscheidungen fallen in kurzer Zeit.
Manchmal muss es schnell gehen:
Manche Entscheidungen fallen in kurzer Zeit.
Frank Röth

Wie schafft man es, nicht in Schweißausbrüche zu verfallen, gar einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn man täglich mit Milliarden jongliert? „Ich habe völlig abstrahiert. Ob es 50 Euro, 50 Millionen oder eine Milliarde sind, spielt in meinen Überlegungen keine Rolle“, sagt Weinberg gelassen „Wir handeln jede Summe mit der gleichen Professionalität, das ist unser Job, und das schulden wir dem Steuerzahler.“

In der Regel werden nicht alle ausgeschriebenen Wertpapiere auch in der Auktion zugeteilt. „Einen Teil der Wertpapiere halten wird zurück und verkaufen sie später im Sekundärmarkt“, sagt Weinberg. Diese sogenannte Marktpflegequote hilft der Finanzagentur, flexibel auf die Nachfrage im Markt zu reagieren und das Zinsrisiko zu diversifizieren. Die Marktpflegequote ist auch hilfreich, wenn es bei einer Auktion mal nicht genügend Gebote gibt. „Das stört uns nicht, weil wir sowieso immer Marktpflege zurückbehalten“, sagt Weinberg, „in solchen Situationen halten wir dann einfach mehr zur Marktpflege zurück.“

Weit weg von Berlin, weit weg von der Skyline: Im Frankfurter Norden residiert die Finanzagentur des Bundes.
Weit weg von Berlin, weit weg von der Skyline: Im Frankfurter Norden residiert die Finanzagentur des Bundes.Frank Röth

Derzeit umfasst das Bieterkonsortium 31 Banken. Es gab aber auch schon mehr, mal auch weniger. Zu den Bietern gehören große Investmentbanken, aber auch Landes- und Genossenschaftsbanken, es sind bekannte Namen wie Goldman Sachs oder die Deutsche Bank. „Die Banken sind in der Regel nur die Vermittlerinnen und verkaufen die Wertpapiere weiter an Investoren“, sagt Weinberg. Deutsche Bundesanleihen haben den sogenannten „Benchmarkt-Status“ im Euroraum. Eine Art „Leitindex oder Referenz für den Markt für Anleihen“, sagt Weinberg, „im Euroraum ist Deutschland die Benchmark, weil wir ein Top-Rating und den liquidesten Markt haben“.

Das bedeutet, dass Investoren und andere Marktteilnehmer die Zinssätze und Renditen deutscher Bundesanleihen als Vergleichsgröße nutzen, um die Attraktivität und das Risiko anderer Staatsanleihen zu bewerten. So wird beispielsweise oft verglichen, wie sich die Renditen italienischer oder französischer Staatsanleihen im Vergleich zu deutschen Bundesanleihen entwickeln. Für die Bundesrepublik ist das gut. Denn da die deutschen Bundesanleihen als besonders sicher gelten, sind die Investoren bereit, niedrigere Renditen in Kauf zu nehmen. Die Steuerzahler entlastet das, wenn wenig Geld an die Käufer ausgeschüttet werden muss.

Deutsche Bundesanleihen sind auf der ganzen Welt beliebt. Die Investoren kommen aus Süd- und Nordamerika, Europa und Asien. „Da gibt es geographisch keine Einschränkung“, sagt Weinberg. Die beiden Geschäftsführer der Finanzagentur sind regelmäßig rund um den Globus unterwegs – Investorengespräche führen. Hier werden strategische Überlegungen ausgetauscht und Bedarfe der Investoren eruiert, um die Emissionen marktgerecht zu gestalten. Täglich liegt das Handelsvolumen deutscher Anleihen bei etwa 25 Milliarden Euro. Insgesamt sind deutsche Staatsanleihen im Wert von 1,8 Billionen Euro im Umlauf. Neben den regelmäßigen Auktionen nutzt die Finanzagentur auch Syndikate zur Schuldenaufnahme. „Wir wählen eine Gruppe von fünf oder sechs Banken aus und beauftragen sie mit dem Verkauf der Wertpapiere direkt an Investoren“, erklärt Weinberg. Diese Methode ermöglicht es, größere Volumina auf einen Schlag abzusetzen, und bietet Flexibilität bei der Terminwahl.

Was tun, wenn 200 Millionen Euro mehr ausgezahlt werden müssen?

Wie viele solcher Bundesanleihen vergeben werden, entscheidet aber nicht Weinberg und auch nicht die Finanzagentur. Das entscheidet allein der Bundestag, wenn er den Bundeshaushalt verabschiedet. Erst das fertige Haushaltsgesetz inklusive der geplanten Schulden landet bei der Finanzagentur. Diese erstellt dann einen sogenannten Emissionsplan, der für jeden öffentlich zugänglich ist. Der Plan legt fest, wie viele Anleihen in welchem Zeitraum emittiert werden. Wenn es doch mal einen Nachtragshaushalt gibt oder das Bundesfinanzministerium Veränderungen für die Schuldenpolitik vorgibt, wird der Plan noch mal angepasst. „Deshalb machen wir vierteljährlich ein Update, bestätigen den bisherigen Emissionsplan oder modifizieren ihn“, sagt Weinberg. Der Vorteil, den Weinberg und seine Kollegen durch die langfristige Planung sehen: Sicherheit für die Marktteilnehmer. Transparenz und Verlässlichkeit sind für die Finanzagentur essenziell, denn damit gewinnen sie das Vertrauen der Investoren.

Neben dem langfristigen Schuldenmanagement hat Weinberg noch eine andere Aufgabe: Er muss dafür sorgen, dass das Konto des Bundes täglich ausgeglichen ist. „Der Bund hat ein Girokonto, genau wie wir alle als Privatpersonen“, sagt Weinberg. Kontonummer 1000. Es liegt bei der Bundesbank. Alle Ein- und Auszahlungen der Bundesrepublik laufen über dieses Konto. Die Einzahlungen stammen hauptsächlich aus Steuereinnahmen. Die Auszahlungen fließen in verschiedene Staatsausgaben wie Gehälter für Beamte, Zuschüsse zur Rentenversicherung oder Sozialleistungen. „Doch im Gegensatz zu einem privaten Girokonto hat der Bund bei seiner Bank, der Deutschen Bundesbank, keinen Dispokredit“, sagt Weinberg, „das Konto darf also nicht ins Minus gehen.“ Keiner Zentralbank in der Eurozone ist es erlaubt, dem eigenen Staat einen Dispokredit zu gewähren. Das verbietet der Maastrichter Vertrag: Verschuldet sich ein Staat, soll er dafür auch haften. Das Problem: Die Steuereinnahmen fallen nicht immer auf den gleichen Tag, an dem auch die Auszahlungen zu leisten sind.

„Wir haben vier Mal pro Tag einen Austausch mit dem Finanzministerium und der Bundesbank, wie der aktuelle Kontostand ist“, erklärt Weinberg. Wenn unerwartet größere Auszahlungen anstehen oder Einzahlungen ausbleiben, reagieren Weinberg und seine Kollegen schnell, indem sie kurzfristige Geldmarktgeschäfte durchführen. „Wenn wir nachmittags um 15:00 Uhr feststellen, dass entgegen den ursprünglichen Planungen heute 200 Millionen Euro mehr ausgezahlt werden, als wir Einnahmen haben, dann müssen wir bis 18:00 Uhr die fehlenden 200 Millionen beschaffen“, sagt Weinberg. Denn um 18:00 Uhr schließt das Konto. Diese kurzfristige Beschaffung erfolgt aber nicht durch die üblichen Auktionen, sondern durch unbesicherte und besicherte Geldmarktinstrumente: „Bei unbesicherten Geschäften leihen wir uns das Geld von einer Bank ohne Sicherheiten, lediglich mit dem Versprechen, den Betrag am nächsten Tag zurückzuzahlen“, erläutert Weinberg, „bei besicherten Geschäften, auch als ‚Repo-Geschäfte‘ bekannt, erhalten wir das Geld und stellen im Gegenzug Wertpapiere als Sicherheit zur Verfügung.“

Um 18:00 Uhr schaltet Weinberg seinen Bildschirm aus. Er hat das Konto des Bundes ein weiteres Mal ausgeglichen. Im Foyer der Finanzagentur wartet währenddessen Günther Schild, dessen bronzener Panzer im Licht glänzt. Die Schildkröte, einst Symbol einer Werbekampagne, wacht in stiller Gelassenheit über das Geschehen des Hauses. Ein Hort der Solidität im ruhelosen Getümmel der Kapitalmärkte, auf denen morgen wieder acht Händler mit den Schulden kämpfen.

Source: faz.net