Liegt es nur am Netz?: Die wahren Gründe zu Gunsten von die Bahnkrise

Es war eine Veranstaltung, wie die Deutsche Bahn sie liebt – endlich einmal keine schlechten Nachrichten. Zur feierlichen Erstpräsentation des ICE L am Freitag auf Gleis sieben im Berliner Ostbahnhof reiste reichlich Prominenz an. Der Präsident des spanischen Herstellers Talgo, Carlos de Palacio y Oriol, Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU), die neue Vorstandsvorsitzende der Bahn, Evelyn Palla – sie alle sonnten sich im Premierenglanz. Zuvor hatte die DB mächtig für die neue Schnellzuggeneration getrommelt. Der ICE L setze Maßstäbe in Sachen Komfort, hieß es in der Einladung.
Auch Markus Hecht war gekommen. Der Professor ist ein ausgewiesener Bahnfachmann. Bis vor kurzem leitete er das Fachgebiet Schienenfahrzeuge am Institut für Land- und Seeverkehr an der Technischen Universität Berlin. Hecht ist von den neuen Zügen nicht überzeugt. „Wie man so etwas bestellen kann!“, schimpfte er schon vor der Premiere im Gespräch mit der F.A.Z.
Was den Zugexperten erheblich stört, ist die bestellte Länge. Gut 250 Meter misst der neue ICE L. Die längsten Bahnsteige in Deutschland aber sind rund 400 Meter lang, aus gutem Grund: Das entspricht ziemlich genau der Länge einer ICE-Doppelgarnitur aus zwei verbundenen kürzeren Teilzügen. Zwei der neuen ICE L lassen sich im Fall des Falles nicht mehr zusammenspannen – zu lang für jedes Bahnhofsgleis zwischen Rügen und dem Breisgau. Verschenkte 150 Meter, findet Hecht.
Schlechteste Pünktlichkeit in diesem Jahr
Es ist nur ein Systemfehler von vielen, die Zugforscher für die Malaise der Deutschen Bahn anführen. In der öffentlichen Diskussion ist von solchen Fehlern wenig zu hören. Dort dreht sich alles um den maroden Zustand der Infrastruktur, der meistens als Rechtfertigung für die zunehmenden Verspätungen angeführt wird. In diesem Jahr kamen an manchen Tagen gerade 40 Prozent der Fernzüge pünktlich an. Im September hatten im Durchschnitt nur 55,3 Prozent der ICEs und Intercitys keine Verspätung. Das war die bislang schlechteste Monatsleistung der Bahn in diesem Jahr.
In der Diagnose der Gründe für das Versagen sind Konzern und Politik sich weitgehend einig. Schuld an der „größten Krise seit 30 Jahren“ seien die seit Jahrzehnten vernachlässigten Brücken, Gleise, Weichen und Stellwerke, sagte der frühere Bahnchef Richard Lutz. Die störanfällige und veraltete Infrastruktur sei „unser eigentlicher Krisenherd“.
Dass die maroden Schienen und Anlagen die Züge ausbremsen, dem wird kein regelmäßiger Bahnfahrer widersprechen. Auch die regelrechte Bauwut in den kommenden Jahren dürfte die Zahl der Verspätungen erst einmal weiter in die Höhe treiben. Bis 2036 sollen nach dem Willen von Bahn und Bund 40 hochbelastete Schienenkorridore generalsaniert werden, verbunden mit monatelangen Komplettsperrungen. Die Renovierungen kosten Milliarden. Im vergangenen Jahr investierten Bund und Bahn 18,2 Milliarden Euro in die Schieneninfrastruktur. Bis 2029 soll der Steuerzahler dafür 107 Milliarden Euro bereitstellen.
Geld allein löst die Probleme nicht
Geld allein wird die Probleme der Bahn nicht lösen. Fachleute sehen fehlerhafte Organisationsstrukturen, falsch gesetzte Anreize und fehlenden Wettbewerb als einen Grund der Malaise. Anders als über die Infrastruktur sprechen Politiker und Manager darüber weniger gern. Die Ausfälle im Netz kann man den Vorgängern anlasten, die Fehlsteuerungen im System erfordern eigenes Handeln.
„Über Jahrzehnte hat die DB Geld vom Staat gewollt und bekommen, aber effektive und unabhängige Kontrollen der Qualität und des effizienten Mitteleinsatzes abgewehrt“, sagt Kay Mitusch, Professor für Netzwerkökonomie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). „Die Bahn gaukelte vor, es sei alles nicht so schlimm, und sie habe alles im Griff – und der Bund hat es gern geglaubt, um sich nicht kümmern zu müssen.“
Mitusch erklärt die Vielzahl an Verspätungen damit anders als die Politik oder die Bahn: Es mangelte weniger an Geld, sondern das Geld wurde schlecht eingesetzt und verschwendet. „Die langjährige Erfahrung der DB lautet, dass sie genau dann mehr Geld vom Bund erhält – und ohne Kontrollen –, wenn sie schlechtere Qualität und größere Finanzierungsprobleme produziert“, sagt Mitusch. Die Ineffizienz der DB-Unternehmen führe zu Qualitätseinbußen, unter anderem zur Vielzahl von Verspätungen und Zugausfällen.
Keine Vergleichsanalysen, keine Kostenmodelle
Konkret verweist der Ökonom auf die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund und DB über die Instandhaltung der Bahninfrastruktur. Vereinfacht gesagt, verspricht die Bahn darin, wie viele Schienen und Qualität sie für die zugesagten Milliarden liefern werde. Doch Qualitätskontrollen seien mit der Vereinbarung nicht verbunden, sagt Mitusch – und schon gar nicht eine effektive Prüfung auf wirtschaftliche und sparsame Mittelverwendung. Die Regulierung durch die Bundesnetzagentur wiederum erfolge ohne Vergleichsanalysen oder Kostenmodelle, ganz im Gegensatz zu anderen regulierten Sektoren.
Den Schlendrian bei der Bahn begünstigt, dass sie auf den Schienen im Fernverkehr weitgehend ohne Konkurrenz unterwegs ist. „In einem normalen Markt hätte man erwartet, dass Wettbewerber angesichts der schlechten Performance der Bahn sofort eingesprungen wären“, sagt der Düsseldorfer Ökonom Justus Haucap, der ehemalige Vorsitzende der Monopolkommission. Im Schienennetz aber passiert das nicht – oder kaum: „Zumindest in Teilen“, sagt Haucap, springe Flixtrain ein, das im Fernverkehr mit der Bahn konkurriert.
Den Grund für den mangelnden Wettbewerb auf der Schiene erkennt der Ökonom darin, dass die Bahn für Verkehr und Infrastruktur zuständig ist. Gegen eine Trennung der beiden Bereiche stehen die Interessen des Bundes. „Der Bund ist Eigentümer der DB“, sagt Haucap. Die Regierung wisse genau, dass es für die Bahn im Wettbewerb schwieriger sei, Renditen zu erwirtschaften als ohne Wettbewerb. So steht das Finanzinteresse der Bundesregierung gegen das Interesse der Bahnkunden, mit mehr Wettbewerb auf der Schiene Pünktlichkeit und guten Service zu erhalten.
„Das läuft alles in die falsche Richtung“
Die Liste der Fehlleistungen, die der faktische Monopolist Bahn produziert, ist lang. Unabhängige Bahnfachleute drängt es danach, sie zu nennen. Ingenieur Hecht kritisiert nicht nur die ungeschickt gewählte Länge des neuen ICE L. „Wie kann ich Fahrzeuge nach 20 bis 25 Jahren ausmustern, was die DB gerade tut, statt sie zu modernisieren?“, spricht er das umfangreiche Programm zur Zugerneuerung an, dass die Bahn regelmäßig als großen Fortschritt lobt. Einige ältere ICE-Modelle werden optisch und technisch auf den neuesten Stand gebracht. Überwiegend aber kauft die DB neu ein, bei Talgo und vor allem beim Traditionslieferanten Siemens . Neu aber sei teuer, moniert Hecht. Eine gute Instandhaltung kostet typischerweise nur ein Vierzigstel des Fahrzeugneupreises.
Neues Zugmaterial kann zugleich zu höheren Verschleiß führen. Als „krasses“ Beispiel nennt Hecht den umfangreichen Ersatz der Schnellzugelektroloks der Baureihe 101 aus den 1990er-Jahren durch Loks der Vectron-Baureihe. Diese beanspruchten Gleise und Weichen wegen der höheren, nicht abgefederten Massen um ein Vielfaches stärker. „Mit Blick auf die Instandhaltung der Gleise und deren Kosten läuft das alles in die ganz falsche Richtung“, sagt Hecht.
Andere Fehlsteuerungen ergeben sich in der Organisation, etwa durch den Umgang mit Fahrplanreserven. Fahrzeiten werden im Fahrplan etwas länger angesetzt, um Spielraum zu haben. Eigentlich soll das ermöglichen, dass unpünktliche Züge Verspätungen aufholen können. Häufig aber passiere das Gegenteil, kritisiert Hecht: „Die großen Reserven führen dazu, dass pünktliche Züge zu lange die Bahnhofsgleise belegen und so für die unpünktlichen blockieren. Das vergrößert die Zahl der Verspätungen; zudem können durch die großen Reserven nicht so viele Züge fahren wie möglich.“ Ein anderes Beispiel ist der Fahrgastwechsel in den ICE. Konstruktiv sei das ganz schlecht organisiert, sagt Hecht. Türbereiche und Bahnsteige passten nicht zusammen. Auch sei die Türöffnungssteuerung mangelhaft. All das verlängert die Aufenthaltszeiten der Züge an den Bahnhöfen.
Kranker Patient noch auf Jahrzehnte
Nicht viel positiver betrachtet Gernot Liedtke, der Direktor des Instituts für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, die Lage der Bahn. Alle Reserven zum Umgang mit Verspätungen seien erschöpft. „So haben auch kleinere Störungen erhebliche Folgeeffekte. Man kann von wiederkehrenden Systemzusammenbrüchen sprechen.“
Kompliziert werde die Analyse dadurch, dass die Gründe für die Verspätungen sich oft kaum abgrenzen ließen. Sind es die unzureichende Infrastruktur, zu knapp geplante Umlaufpläne der Züge, der Wartungszustand der Züge oder der schlechte Zustand der Schienen, der die Verspätung auslöste? Diese Unklarheit könne dazu führen, dass die Milliarden für die Bahn mit falschen Prioritäten eingesetzt würden, fürchtet Liedtke. Die Bahn werde „noch auf Jahrzehnte ein kranker Patient bleiben, der nicht überfordert werden darf“. Einen kleinen Geschmack davon lieferte die Bahn zur ICE-L-Premiere am Freitag. Zwei Tage zuvor verschickte sie eine korrigierte Einladung – mit einer Änderung des Gleises.